Mount Everest: Wie der Khumbu-Eisbruch fließt

Im Khumbu-Eisbruch

Der Khumbu-Eisbruch am Mount Everest kann für Bergsteiger jederzeit zu einer tödlichen Falle werden. Etwa wenn einer der Seracs, der riesigen Eistürme, zusammenbricht, wenn sich neue Gletscherspalten öffnen oder sich bestehende plötzlich verändern. Zusätzlich drohen Lawinen von der schnee- und eisbeladenen Everest-Westschulter und vis-a-vis von den Hängen des 7861 Meter hohen Nuptse. Im April 2014 kamen bei einer Eislawine im Khumbu-Eisbruch 16 nepalesische Bergsteiger ums Leben.

Die Passage oberhalb des Basislagers ist der Abschnitt der Normalroute auf der nepalesischen Everest-Südseite mit den höchsten objektiven Gefahren. Der Grund liegt auf der Hand: Der Khumbu-Gletscher bewegt sich ständig, durchschnittlich einen Meter pro Tag, durch das Nadelöhr zwischen Westschulter und Nuptse hindurch, rund 600 Meter abwärts Richtung Basislager. Und er fließt nicht gleichmäßig.

Satellitendaten mit GPS-Daten von Bergsteigern verglichen

Genau damit haben sich der Niederländer Bas Altena und der Schweizer Andreas Kääb beschäftigt, die am Institut für Geowissenschaften der Universität Oslo forschen. Die beiden haben jetzt erstmals eine Karte der unterschiedlichen Fließgeschwindigkeiten des Khumbu-Eisbruchs erstellt.

Dazu verarbeiteten sie in ihrer Studie mit einem neu entwickelten Verfahren hochauflösende Bilder der beiden europäischen Sentinel-2-Satelliten, die mindestens alle fünf Tage über den Everest fliegen und von dort optische Daten liefern. Um die ermittelten Fließgeschwindigkeiten des Eises zu überprüfen, nutzten die Wissenschaftler die GPS-Daten norwegischer Bergsteiger, die 2019 den Everest bestiegen. Sie verglichen deren Positionen im Eisbruch während des Aufstiegs mit jenen während des Abstiegs und konnten so die zwischenzeitlichen Bewegungen des Eises im Bereich der Route nachvollziehen.

Wenig Interesse der Bergsteiger

Bas Altena (l.) und Andreas Kääb (r.)

Im Vorfeld hatte Bas Altena auch bei anderen Bergführern und Expeditionsveranstaltern angefragt – mit mäßigem Erfolg. „Die Reaktionen, die ich erhielt, reichten von sehr zurückhaltend (sie benutzten nicht einmal GPS-Geräte, wegen des Gewichts und weil dafür Batterien nötig sind) bis hin zu sehr ermutigenden Kommentaren (‚Das ist es, was die Icefall Doctors brauchen!‘)“, schreibt mir Bas. „Ich habe versucht, die Icefall Doctors zu kontaktieren, bisher aber keine Antwort erhalten.“ Das verwundert, sind die hochspezialisierten Sherpas, die die Route durch den Eisbruch einrichten und instand halten, doch während der gesamten Saison einem hohen Risiko ausgesetzt. Jedes zusätzliche Mittel, dieses Risiko zu minimieren, sollte also eigentlich hochwillkommen sein.

Je schneller, je mehr Spalten

Nepalesische Südseite des Mount Everest mit Khumbu-Gletscher

Altena ist nicht nur Wissenschaftler, sondern auch ein Bergsteiger, der häufig in den Alpen und den Bergen Norwegens unterwegs ist: „Daher weiß ich um den Wert von Karten, die auf aktuellem Stand sind. Wenn man die Fließgeschwindigkeit des Eises kennt, kann man den vor einem liegenden Weg besser einschätzen.“ Dank Satelliten sei inzwischen ein Großteil der Gletscher weltweit kartiert. „Das kann für Expeditionen von großem Wert sein, da schnell fließende Gletscher in der Regel mehr Spalten haben als langsamere.“

Aber ändert sich das Tempo des Eises nicht ständig und kann die Karte daher nur eine Momentaufnahme sein? „Die Geschwindigkeitsänderung innerhalb des Khumbu-Eisbruchs ist nicht sehr signifikant“, antwortet Bas. Die Geschwindigkeit hänge von der Hangneigung ab – und die Reaktion des Eises davon, wie der felsige Untergrund beschaffen sei. Sowohl die Neigung als auch der Untergrund änderten sich nicht von einem Jahr auf das andere, sodass die Karte der Fließgeschwindigkeiten vorerst Bestand habe. „Über Jahrzehnte hinweg kann sich jedoch die Eisdicke verändern, und die Wirkung der Unebenheiten ändert sich entsprechend“, schränkt Altena ein – in Zeiten des Klimawandels ein Faktor, der eine immer größere Bedeutung erhalten dürfte.

Zeit noch nicht reif?

Und ständig drohen die Seracs

Die Bergsteiger im Khumbu-Eisbruch müssten keine Wissenschaftler sein, um mit den Daten umzugehen, sagt Bas. „Wenn man in der Lage ist, eine Karte zu lesen, und über fundierte Kenntnisse der Meteorologie verfügt, was für einen Alpinisten Voraussetzung ist, kann man diese Daten auch interpretieren.“ Er habe, so der niederländische Wissenschaftler, den Bergführern ausdrücklich seine Hilfe angeboten, sollten sie doch Probleme haben, die Karte der Fließgeschwindigkeiten zu verstehen.   

„Es wäre sehr schön, wenn solche Daten zum Werkzeugkasten der Bergsteiger gehören würden“, sagt Bas Altena. „Aber ich muss auch realistisch sein. Wenn die Reaktion von Bergsteigern und Icefall Doctors minimal ist, ist die Zeit dafür vielleicht noch nicht reif.“ Dabei sollte den Bergsteigern am Everest doch klar sein, dass ihr Risiko, in dem Eislabyrinth in eine tödliche Falle zu tappen, umso mehr abnimmt, je besser sie den Eisbruch verstehen. Oder?

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