So will er nicht abtreten. Eigentlich hatte Paraclimber Michael Füchsle spätestens in diesem Jahr seine Wettkampfkarriere beenden wollen. Doch die Corona-Pandemie und gesundheitliche Probleme machten ihm einen Strich durch die Rechnung. „Ich habe eitrige Fistelgänge am Darm, die immer wieder aufbrechen können“, erzählt mir der 54-Jährige aus der Kleinstadt Bobingen südlich von Augsburg. „Ich habe vor Schmerzen keine zwei Meter weit laufen können. Zwischen März und Juni habe ich fast gar nicht klettern können.“
Michael denkt darüber nach, ob er 2022 noch einmal bei einem Wettbewerb antritt: „Ich bin noch unschlüssig, aber wenn ich es mache, wird es der Weltcup in Innsbruck am 21. und 22. Juni.“ Sollte es Füchsle wieder in den Paraclimbing-Nationalkader schaffen, würde der Deutsche Alpenverein die Kosten für den Start tragen. „Wenn nicht, würde ich darauf sitzen bleiben.“
Dem Tod von der Schippe gesprungen
Füchsle dürfte weltweit einer der wenigen Paraclimber sein, die sich selbst als Profis bezeichnen. Eigentlich tut er das schon seit seinem 14. Lebensjahr. Damals noch nicht behindert, brach er die Schule ab und widmete sich nur noch dem Klettern. Sein Geld verdiente er später, indem er Kletterführer und Zeitschriftenartikel schrieb, Vorträge hielt und Wettkämpfe bestritt. Mit 18 Jahren wurde bei Füchsle eine chronische Darmentzündung festgestellt, was ihn aber nicht daran hinderte, weiter zu klettern.
20 Jahre später sprang er dem Tod gerade so von der Schippe. Nach einem Darmdurchbruch samt Blutvergiftung im September 2005 musste er bei einer Notoperation wiederbelebt werden, 16 Tage lang lag er im Koma. Als Michael wieder aufwachte, hatte er nicht nur einen künstlichen Darmausgang, ein sogenanntes Stoma, sondern war vom Hals abwärts gelähmt. Die Ärzte erklärten, er müsse den Rest seines Lebens im Rollstuhl verbringen.
Klettervideos als Motivationshilfe
Damit wollte er sich nicht abfinden. Füchsle begann zu trainieren, schaffte es, wieder zu laufen und 2012 – dank seiner Partnerin Marion, die ihn dazu ermunterte – auch wieder zu klettern. Drei Jahre später bestritt er seinen Wettkampf im Paraclimbing. Sein größter Erfolg war 2017 der zweite Platz in der Weltcup-Gesamtwertung. „Ich trainiere fast täglich“, sagt Michael. „Aktuell bin ich bei etwa 80 Prozent meiner Leistungsfähigkeit.“
Sich zu motivieren, sei für ihn kein Problem, meint Füchsle. „Ich bin ein Stehaufmännchen. Ich raffe mich immer wieder auf. Nach gesundheitlichen Rückschlagen frage ich mich zwar ab und zu: Soll ich mir das weiter antun? Aber dann sehe ich mir einfach Videos der Weltklassekletterer Adam Ondra oder Alex Megos an, oder auch frühere Filme von Wolfgang Güllich oder Kurt Albert. Und schon bin ich wieder motiviert.“
Mentor für jüngere Parakletterer
Nachdem das Sportklettern im vergangenen Sommer in Tokio seine olympische Premiere feierte, deutet vieles darauf hin, dass auch Paraclimbing 2028 in Los Angeles paralympische Disziplin wird. „Ich fände das sinnvoll, dann würde Paraklettern bekannter“, sagt Michael, der am 28. Dezember seinen 55. Geburtstag feiert. 2028 in Los Angeles wäre er zu alt, um bei den Paralympischen Spielen zu starten. Aber vielleicht könnte er ja in anderer Funktion dabei sein.
Als eine Art Mentor berät Füchsle jüngere Kaderathleten wie den 23 Jahre alten Florian Singer, der bei der WM 2018 Vierter wurde, oder den 32 Jahre alten Korbinian Franck, der 2016 Para-Weltmeister wurde und seitdem bei Weltcups und Weltmeisterschaften zahlreiche Podiumsplätze erreichte. „Ich trainiere mit ihnen und helfe ihnen bei der Sponsorensuche. Da hilft mir meine Erfahrung“, sagt Michael.
Traum von neuer Route im Fels
Nach wie vor gibt er auch Kletterkurse. „Viele nicht behinderte Kletterer merken gar nicht, dass ich mit Handicap klettere“, berichtet Füchsle. „Man sieht es mir ja nicht an.“ Beim Klettern trägt er über dem Stoma eine Bandage sowie einen Plastikschutz, der unter einem weiten Kletter-Shirt kaum auffällt. Künftig will er sich wieder mehr auf das Felsklettern konzentrieren. Michael träumt davon, als Paraclimber eine anspruchsvolle Felsroute erstzubegehen.
Ein Leben ganz ohne Klettern kann er sich nicht vorstellen. „Mein Vorbild ist die Kletterin und Krimi-Autorin Irmgard Braun, die ich seit über 30 Jahren kenne“, sagt Füchsle. „Die wird bald 70 und klettert immer noch eine 7c+.“ Dieser Wert auf der französischen Skala entspricht dem oberen neunten Schwierigkeitsgrad auf der Skala der UIAA, des Weltverbands der Bergsteiger und Kletterer – zum Vergleich: In den 1970er-Jahren galt der siebte Grad als Maß aller Dinge. Traut sich Michael Füchsle zu, auch mit 70 Jahren auf ähnlich hohem Niveau zu klettern? „Mal sehen“, antwortet der Paraclimber und lacht.