Berge sind selten nur schwarz-weiß, ebenso wenig ist es die Wirklichkeit. Auch wenn wir sie lieber ganz schwarz oder weiß sähen, bleibt sie doch an vielen Stellen grau – je nachdem, durch welche Brille wir sehen, eher schwarz oder eher weiß. Seit Tagen wird in der Bergsteigerszene heftig diskutiert über die Rettung des malaysischen Bergsteigers Wui Kin Chin aus großer Höhe vom Achttausender Annapurna. Der 49-Jährige wird inzwischen in einem Krankenhaus in Singapur behandelt. Auch wenn es ihm offenbar besser geht, wurde sein Zustand am gestrigen Montag immer noch als ernst bezeichnet. Die Erfrierungen, die er sich in den über 40 Stunden auf 7500 Metern an Händen und Füßen zugezogen hat, sind nach Angaben der Ärzte massiv. Dass Chin überhaupt überlebt hat, grenzt an ein kleines Wunder.
Hätte Chin früher gerettet werden können?
Die Debatte hat vor allem durch die Anklage von Nirmal Purja an Fahrt aufgenommen, einem der vier Retter, die am Donnerstag von einem Hubschrauber auf 6500 Metern abgesetzt worden, dann zu Chin aufgestiegen waren, ihm Erste Hilfe geleistet und ihn so weit nach unten transportiert hatten, dass er hatte ausgeflogen werden können. Nirmal warf dem Rettungsunternehmen „Global Rescue“ vor, wertvolle Zeit verschenkt zu haben. Nachdem er von der Notlage Chins erfahren habe, sei er mit mehreren Sherpas in Lager 4 auf 7100 Metern ausgeharrt, schrieb der Nepalese auf Facebook: „Wir warteten darauf, vom Hubschrauber aus zusätzlichen Sauerstoff zu erhalten, damit wir damit beginnen konnten, auf dem Berg nach ihm zu suchen. (Das ist alles, was seine Versicherung tun musste: einfach sechs Flaschen Sauerstoff nach Lager 4 abzulassen, wo ich mit meinem Rettungsteam auf Standby war.) Mir wurde gesagt, das Rettungsunternehmen habe die Nothilfe verweigert. Ich konnte mein Team nicht länger in dieser extremen Höhe halten, das hätte ihr Leben gefährdet.“
Laut dem Expeditionsveranstalter „Seven Summit Treks“ (SST) hielten sich anfangs noch sechs Nepalesen sowie der kanadische Bergsteiger Don Bowie im höchsten Lager auf, stiegen letztlich aber wegen der unklaren Lage ins Basislager ab. SST wirft Global Rescue vor, die Bergsteiger vor Ort einen Tag lang hingehalten zu haben, um am Ende doch zu entscheiden, die Aktion nicht zu unterstützen.
Unverantwortliches Risiko, doppelte Rechnungen?
Global Rescue bestreitet die Vorwürfe vehement. Das Unternehmen sei am Abend des Gipfeltags über die Notlage ihres Mitglieds Chin unterrichtet worden. „Obwohl Global Rescue keine Suchfirma ist (unsere Mitgliedsdienste bieten Rettung nur von bekannten Orten aus an), haben wir unser nepalesisches Bodenteam und unsere Hubschrauber-Partner kontaktiert, um festzustellen, ob eine Suche am nächsten Morgen möglich war, da es spät am Tag war (keine Drehflügler fliegen nachts im Himalaya)“, teilte Global Rescue mit. „Alle Hubschrauber-Anbieter, mit denen wir zusammenarbeiten und zu denen einige der erfahrensten Rettungspiloten Nepals in großen Höhen gehören, gaben an, dass sie die Mission aus Sicherheitsgründen nicht durchführen konnten, da die Höhe über den Limits ihrer Luftfahrzeuge lag. Mit diesen Informationen versuchte Global Rescue, die nächsten Angehörigen von Herrn Chin zu kontaktieren, um eine Suchmission am Boden zu erörtern, deren Durchführung mehrere Tage dauern könnte.“ Am Morgen des nächsten Tags habe Chins Frau einen Hubschrauber-Anbieter bezahlt, der bereit gewesen sei, oberhalb der Betriebsgrenze des Fahrzeugs zu fliegen, um nach ihrem Mann zu suchen. Diese Aktion, so Global Rescue, habe „nicht nur das Leben des Piloten, sondern auch das der Leute am Boden gefährdet“.
Nachdem die Hubschrauber-Piloten Chin entdeckt hätten, habe sich Global Rescue bereiterklärt, die Kosten der Bergung zu übernehmen. Im Laufe des Tages habe es dann aber „beunruhigende Informationen“ gegeben, so das weltweit operierende Unternehmen. Die Rettung habe nicht nur Global Rescue, sondern auch Chins Frau in Rechnung gestellt werden sollen. Zudem habe SST mehrfach zwischen 50.000 und 100.000 US-Dollar für die Beteiligung an der Aktion verlangt, was Global Rescue abgelehnt habe.
Das wiederum weist Dawa Sherpa, der die Rettungsaktion im Basislager für SST koordinierte, entschieden zurück. „Wir alle haben unseren Job selbstlos erledigt, alle Mitglieder haben 100 Prozent gegeben, um das Wunder möglich zu machen.“
Wer trägt die Verantwortung für den Flaschensauerstoff?
Auch in der Frage der Sauerstoff-Flaschen stehen sich die Positionen diametral gegenüber. Global Rescue nimmt den Expeditionsveranstalter in die Pflicht, für ausreichend Flaschensauerstoff am Berg zu sorgen: „Wir sind nicht in der Lage, Expeditionen (es gibt davon Hunderte im Himalaya) neu zu beliefern, die nicht richtig ausgestattet wurden und denen deshalb Sauerstoff oder andere wichtige Dinge ausgegangen sind.“ SST kontert, man habe ausreichend Sauerstoffflaschen für alle Expeditionsmitglieder dabei gehabt, um den Gipfel zu erreichen und wieder sicher nach Lager 4 abzusteigen. Der angeforderte zusätzliche Sauerstoff sei ausschließlich für Chin und die Retter gedacht gewesen, die ihm entgegensteigen sollten.
Nima Tshering Sherpa, der persönliche Begleiter Chins, hatte dem Malaysier nach eigenen Worten seinen Flaschensauerstoff überlassen und stundenlang bei ihm gewartet. Erst als der Sauerstoff zur Neige gegangen sei und er selbst Herzschmerzen und Atembeschwerden bekommen habe, sei er abgestiegen. Auch Nima Tshering zog sich Erfrierungen zu, außerdem Sturzverletzungen. Chin und er seien die Letzten gewesen, die um fünf Uhr nachmittags den Gipfel erreicht hätten, sagt der Sherpa. Die anderen 30 Bergsteiger waren also bereits im Abstieg. Auch Nima Tshering glaubt, dass Chin glimpflicher hätte davonkommen können, wenn die Rettungsaktion schneller angelaufen wäre.
Wer trägt die Schuld?
Gibt es wirklich den einen Schuldigen für die dramatische Zuspitzung der Lage – schwarz und weiß? Mein Eindruck (mehr kann ich nicht wiedergeben, da ich nicht am Berg war!) ist, dass hier einige Dinge zusammenkamen.
Zum einen handelte es sich offenkundig nicht um eine homogene „behütete“ Gruppe, die sich einem einzigen Bergführer anvertraute. Sonst hätte es eine feste Umkehrzeit geben müssen. Vielmehr teilten sich die 32 Bergsteiger in mehrere Klein- und Kleinstgruppen, die sich unter einem Permit zusammengefunden hatten. Sie nutzten zwar gemeinsam die Infrastruktur der Expedition, sprich Hochlager und Fixseile, waren ansonsten aber weitgehend für sich unterwegs und suchten nach dem Gipfelerfolg auch unabhängig voneinander so schnell wie möglich den Weg nach unten. Den Bergsteigern dürfte auch bewusst gewesen sein, dass der Flaschensauerstoff am Berg für Auf- und Abstieg ausreichen würde, möglicherweise aber nicht für eine aufwendige Rettungsaktion. Auch deshalb war der rasche Abstieg geradezu Pflicht.
Mehr Sauerstoff am Berg erfordert auch mehr Personal und damit höhere Kosten. Darüber sollte sich jeder Expeditionsteilnehmer klar sein und sich darüber auch im Vorfeld informieren. Jeder Bergsteiger muss selbst entscheiden, wie viel ihm die eigene Sicherheit wert ist – wenn es so etwas an einem so gefährlichen Berg wie der Annapurna überhaupt geben kann – und wie und mit wem er daher sein Unternehmen plant.
Auch die Entscheidung, besser umzukehren als unter allen Umständen den Gipfel zu erreichen, liegt nicht nur in der Verantwortung des Veranstalters, des Expeditionsleiters, des Guides oder gar des persönlichen Sherpas, sondern auch in der des Bergsteigers. Er ist derjenige, der eigentlich am besten beurteilen können müsste, ob seine Kräfte reichen, um den höchsten Punkt zu erreichen und auch sicher wieder absteigen zu können.
Es mag sein, dass die Rettungsaktion für Chin schneller hätte anlaufen können, vielleicht sogar müssen. Und deshalb ist es auch wichtig, den Ablauf zu überprüfen: Sind Fehler gemacht worden, wenn ja, von wem und welche? Liegen sie vielleicht auch im System begründet – was der 2018 offen gelegte Skandal um Versicherungsbetrug bei Rettungsflügen in Nepal nahelegt? Reicht die Kontrolle der Expeditionsveranstalter, der Hubschrauber-Unternehmen und der Rettungsfirmen aus? Ziehen im Notfall wirklich alle an einem Strang?
Update 2. Mai: Nach Medienberichten aus Malaysia ist Wun Kin Chin im Krankenhaus in Singapur gestorben. R.I.P.