Der frühe Vogel fängt den Wurm. Das scheint sich Simone Moro gedacht zu haben. Der italienische Bergsteiger ist so früh wie noch nie zu einer Winterexpedition im Himalaya aufgebrochen. Der 54-Jährige hält sich bereits im Khumbu-Gebiet, der Region um den Mount Everest auf. An der 6812 Meter hohen Ama Dablam will sich Simone für sein eigentliches Ziel akklimatisieren, das er – wie im vergangenen Winter – gemeinsam mit dem Spanier Alex Txikon realisieren will: die Winterbesteigung des 8163 Meter hohen Manaslu im Westen Nepals und nach Möglichkeit auch noch des 7992 Meter hohen vorgelagerten Pinnacle East.
Diese spektakuläre Traverse war erstmals den beiden Polen Jerzy Kukuczka und Artur Hajzer im November 1986 gelungen, also im Herbst. Auch die erste Winterbesteigung des Manaslu – ohne Traverse – ging auf das Konto von Polen: Maciej Berbeka and Ryszard Gajewski erreichten im Januar 1984 den Gipfel.
Moro ist ein echter Winterspezialist: Ihm gelangen vier Wintererstbesteigungen von Achttausendern, so viele wie keinem anderen Bergsteiger: Shishapangma (2005), Makalu (2009), Gasherbrum II (2011) und Nanga Parbat (2016). Der Italiener hat meine Fragen beantwortet:
Simone, wie erlebst du Nepal aktuell – vor dem Hintergrund der nach wie vor andauernden Corona-Pandemie?
Hier fühlt es sich ruhig und sicher an. Und die Menschen sind optimistisch, was die kommende Saison angeht.
Du wirst dich bereits zum vierten Mal im Winter am Manaslu versuchen – die ersten drei Anläufe, 2015 (mit Tamara Lunger), 2019 (mit Pemba Gyalje Sherpa) und im vergangenen Winter (mit Alex Txikon) waren erfolglos. Was hast du aus diesen gescheiterten Versuchen gelernt?
Dass es bequemer wäre, die falsche Winter-Regel anzuwenden, die den 1. Dezember zum Winterbeginn erklärt, aber ich schummle nicht gerne. Alle drei bisherigen Versuche am Manaslu begannen nach dem 21. Dezember, und in den drei Wochen davor herrschte perfektes Wetter. Aber diese Tage gehören zum Spätherbst. Diesmal bin ich also hier, um mich in den wunderbaren ersten 20 Dezembertagen besser zu akklimatisieren, und dann gehe ich zum Manaslu-Basislager-Basislager.
In der Herbstsaison wurde viel über den „wirklichen“ Manaslu-Gipfel gesprochen, den die meisten Bergsteiger in den vergangenen Jahrzehnten nicht erreicht haben, weil sie auf einem der Vorgipfel stoppten. Wie wichtig ist es für dich, diesen allerhöchsten Punkt am Ende des Gipfelgrats zu erreichen?
Natürlich gibt es auf jedem Berg nur einen Hauptgipfel. Aber ich habe immer die Entscheidung eines jeden Bergsteigers respektiert. Niemand muss für die Meinung anderer ein zusätzliches Risiko eingehen. Aber gleichzeitig ist es wichtig, ehrlich zu erklären, welcher Punkt genau erreicht wurde.
Bist du wild entschlossen, im Erfolgsfall auch noch die Besteigung des Pinnacle East anzuschließen?
Ja, natürlich, je nachdem wie kalt und windig es sein wird. Aber ich würde gerne die erste Winterbesteigung des Pinnacle East und die zweite Besteigung überhaupt machen. Aber nicht um den Preis, dass ich dabei sterbe. Ich bin 54, und in meinem Alter sollte man normalerweise keine dummen oder Macho-Entscheidungen treffen.
Du bereitest dich schon jetzt im Khumbu vor. Alex Txikon reist erst später an. Du dürftest also einen Vorsprung bei der Akklimatisierung haben. Seid ihr fest entschlossen, den Berg gemeinsam zu besteigen oder habt ihr auch die Option, unabhängig voneinander aufzusteigen?
Alle Optionen sind offen. Das ist Ausdruck der großen Freiheit und Freundschaft mit Alex.
Der nepalesische Expeditionsveranstalter Seven Summit Treks behält sich die Option vor, in diesem Winter ein kommerzielles Team zum Manaslu zu schicken. Kannst du damit leben?
Die Berge gehören allen, deshalb kann ich nicht allen meine Wünsche oder meinen Stil aufzwingen. Ich werde versuchen, schnell zu sein, aber das Wetter wird entscheiden. Und ich werde in der Lage sein, mich an die Realitäten im Manaslu-Basislager anzupassen.