Seine damalige Freundin erkannte ihn kaum wieder. „Es scheint, als stiege ein Betrunkener vom Col herab und nicht derselbe Mann, der vor vier Tagen fortgegangen ist“, schrieb Nena Holguin in ihr Tagebuch. „Er sieht mich mit Tränen in den Augen an. Sein Gesicht ist gelb, die Lippen sind aufgesprungen und zerfranst.“ Reinhold Messner war fertig, physisch und auch psychisch. Dieser alpinistische Geniestreich hatte ihm alles abverlangt.
Wieder hatte er eine Grenze verschoben, möglich gemacht, was andere für unmöglich gehalten hatten. Mitten im Monsun hatte der Südtiroler den Mount Everest über die tibetische Nordseite bestiegen: im Alleingang, ohne Flaschensauerstoff, auf einer teilweise neuen Route: Messner querte die Nordflanke unterhalb den Nordostgrats, stieg dann durch das Norton-Couloir auf und erreichte schließlich am Nachmittag des 20. August 1980, dem dritten Tag seines Aufstiegs, den höchsten Punkt auf 8850 Metern.
Lange hat der erste Mensch, der alle 14 Achttausender bestieg, das Everest-Solo als „i-Tüpfelchen“ seiner bergsteigerischen Karriere bezeichnet. Jetzt, mit dem Abstand von vier Jahrzehnten, ordnet Reinhold Messner seine Pioniertat anders ein. Ich habe mit dem 75-Jährigen gesprochen.
Reinhold Messner, denken Sie heute noch manchmal an jenen 20. August 1980, als Sie nach Ihrem Alleingang den Gipfel des Mount Everest erreichten?
Viel weniger, als ich nach wie vor an den Nanga Parbat denke, den ich zehn Jahre vorher bestiegen habe. Die Geschichte vor 50 Jahren, die Tragödie mit dem Tod meines Bruders, ist viel nachhaltiger in meinem Bewusstsein geblieben als der Everest-Alleingang. Dennoch war das Solo am Mount Everest eine Art Schlussakkord in meiner Entwicklung vom Nanga Parbat 1970 über den Hidden Peak 1975 (am Gasherbrum I gelang Messner mit Peter Habeler die erste Besteigung eines Achttausenders im Alpinstil), den Everest ohne Maske und das Solo am Nanga Parbat (beides 1978) bis zum K2 (1979). Danach habe ich zum Sprint angesetzt, alle Achttausender zu besteigen (1986 komplettierte er seine Sammlung, stets verzichtete er auf Flaschensauerstoff).
Sie schreiben in einem Ihrer Bücher über die letzten Meter bei ihrem Everest-Solo: „Es war eine unendliche Qual“. Wie fertig waren Sie damals?
Ich war 1980 am Everest so fertig wie nie zuvor und auch danach nicht mehr. Ich hatte fantastisches Wetter, war sehr gut akklimatisiert und kam im unteren Teil des Bergs sehr gut voran. Das hat mich fröhlich und zuversichtlich gestimmt. Wenige hundert Meter unter dem Gipfel hat dann allerdings das Wetter zugemacht. Es kroch Nebel von der Südseite herauf, der über die Grate und den Gipfel nach Norden herunterschwappte. Ich hatte dann plötzlich Angst, ich würde die Orientierung verlieren. Es nieselte winzige Schneeflocken.
Wenn ich meine Spur, die nur wenig in den Firn einbrach, beim Heruntergehen nicht wiedergefunden hätte, hätte ich mich da oben verloren. Ich habe mich also bemüht, ein wenig schneller zu steigen. Das funktionierte aber nicht, weil der Sauerstoffpartialdruck dort oben so gering war. Da war also zum einen die Sorge, dass es gefährlich wird, und zum anderen die dünne Luft, die mich gebremst, gebremst, gebremst hat. Ich war am Gipfel so kaputt, dass ich mich nur noch in den Schnee fallen ließ und vor mich hindämmerte. Zum Glück hatte ich nach einer Stunde Schnaufen – mehr war es nicht – die Kraft, aufzustehen und wieder abzusteigen.
Ihr Everest-Solo gilt als Meilenstein des Himalaya-Bergsteigens. Würden Sie das Projekt als Höhepunkt Ihrer sportlichen Karriere bezeichnen?
Nein, der Nanga-Parbat-Alleingang war wichtiger, weil es der erste Schritt in diese Dimension war, einen Achttausender ganz alleine zu packen. Da geht es vor allem um die Nicht-Möglichkeit, die Sorgen und Ängste zu teilen. Wenn ich einen Partner oder eine Partnerin dabei habe, wird das Ganze emotional und psychisch leichter zu ertragen. Aber es bleibt eine Schinderei. Die sauerstoffarme Luft, das Hecheln, die kalte Luft, die deine Lungen füllt – es ist ein einziges Leiden. Das muss man selbst erlitten haben, um es nacherzählen zu können.
Der Everest-Alleingang war nicht die schwierigste, aber die anstrengendste Sache, die ich gemacht habe – allerdings nur am Gipfeltag. Ich kam dann wieder aus dem Nebel heraus. Und das Absteigen, gerade wenn Monsun-Schnee liegt, ist um ein Vielfaches weniger anstrengend als das Aufsteigen.
Es ist bis heute das einzige erfolgreiche Soloprojekt am Everest geblieben. Warum ist das aus Ihrer Sicht so?
Natürlich gibt es einige Leute, die alleine auf der Piste hinaufgestiegen sind, vor ihnen 50 Leute, hinter ihnen 100 Leute. Zu ihnen gehörte zum Beispiel auch Alison Hargreaves (die Britin kam 1995 im Alter von 33 Jahren am K2 ums Leben), für mich die beste Bergsteigerin, die es je gegeben hat. Aber das ist kein Alleingang. Bei einem Alleingang begebe ich mich völlig auf mich allein gestellt in eine große Flanke eines Bergs. Und das ist eben schwierig, weil wir Menschen nicht fürs Alleinsein gemacht sind.
Es ist vergleichsweise leicht, in einer Dolomitenwand alleine eine Nacht zu biwakieren und am nächsten Tag weiterzuklettern. Auch das musste ich jedoch lernen. Aber es ist viel schwieriger, alleine in die Wildnis hinauszugehen und wochenlang vom Rest der Welt abgeschnitten zu sein. Das ist schwierig zu ertragen.
Im vergangenen Winter versuchte sich der Deutsche Jost Kobusch an einem Solo ohne Atemmaske über den Everest-Westgrat. Er erreichte dabei eine Höhe von knapp 7400 Metern. Halten Sie einen Alleingang bis zum Gipfel im Winter für realistisch?
Ja, es gibt Bergsteiger, die dieser Herausforderung vielleicht gewachsen sind. Eines ist aber sicher, Kobusch wird das nicht schaffen. Er hat keine oder wenig Ahnung, von dem, was er eigentlich macht. Er ist ja auch der Meinung, dass über den Lho La, einen Pass, auf dem er war, vor 500 Jahren die Sherpas von Tibet nach Nepal eingewandert sind. Wenn jemand nicht weiß, dass es der Nangpa La war, über den sie gekommen sind, und nicht der Lho La, an dem es gar nicht möglich ist, dann hat er vom Mount Everest historisch-geographisch keine Ahnung.
In diesem Frühjahr blieb der Everest ein einsamer Berg. Was alle Appelle, die Zahl der Gipfelanwärter zu reduzieren, nicht geschafft haben, bewirkte die Corona-Krise. Was glauben Sie, könnte es einen nachhaltigen Effekt haben?
Es wird leider keinen nachhaltigen Effekt haben. Die Sherpas brauchen diese Arbeit, weil sie damit ihr Geld verdienen. Und die Regierung streicht die Gebühren für die Permits ein – je 11.000 Dollar, bald vielleicht sogar 25.000, das ist noch in der Diskussion. Die Sherpas haben den Everest heute im Griff. Sie sind im Himalaya die besten Bergführer, die man sich vorstellen kann. Einige von ihnen haben den Everest ein Dutzend oder sogar zwei Dutzend Mal bestiegen. Ein Gurkha, Nirmal Purja, hat nicht nur den Everest, sondern alle 14 Achttausender in knapp sieben Monaten bestiegen. Das war allerdings nur möglich, weil alle diese Berge in Seilen und Ketten gelegt werden. Es werden touristische Pfade angelegt, damit man möglichst viele Leute hinaufbringen kann.
Jetzt war ein Jahr Stille am Mount Everest, und das ist gut so. Aber der Druck wird wachsen, ebenso die Nachfrage bei den Reiseveranstaltern, den Everest buchen zu können. Und damit wird auch das Angebot wieder größer werden. Die Annehmlichkeiten im Basislager und weiter oben werden zunehmen, damit ist es auch für immer mehr Menschen möglich, auf das Dach der Welt zu steigen.
Das sei ihnen unbenommen, aber traditioneller Alpinismus ist das nicht. Traditioneller Alpinismus ist etwas ganz anderes. Kobusch hat es gewollt, aber im Vorfeld hätte er wissen müssen, dass er mit seiner Erfahrung heute keine Chance hat. Wenn er sehr viel lernt und wirklich versteht, was Alpinismus ist, und nicht nur nachliest und nachplappert, dann hat auch Kobusch, physisch sicherlich ganz fit, die Chance, einen Alleingang am Everest zu Ende zu bringen. Es ist leicht, die größte Abenteuergeschichte aller Zeiten anzukündigen, aber a priori schon zu wissen, dass es nur zu einem lächerlichen Versuch kommt.
Danke für das Interview! Haha, da hat der Meister einen ganz klaren Appell an Jost gerichtet.