Es gehört Mut dazu, in Kriegszeiten die Stimme gegen die eigene Regierung zu erheben. Besonders wenn diese Regierung mit Haftstrafen von bis 15 Jahren droht, falls „falsche Informationen“ über die „militärische Spezialaktion“ verbreitet werden, wie Präsident Wladimir Putin die russische Invasion in der Ukraine nennt. Einige russische Topbergsteiger wie Alexander Gukov, Evgeniy Glazunov und Dmitry Pavlenko ließen sich davon nicht beeindrucken, sondern positionierten sich öffentlich klar gegen Putin und seinen Angriffskrieg.
Pavlenkos Tonfall wird jedoch zunehmend frustrierter. „So bitter es auch sein mag, wir müssen zugeben, dass Putins Propaganda in Russland und Teilen des GUS-Raums gewonnen hat. In zwanzig Jahren hat sie es geschafft, über hundert Millionen Menschen in Flash-Laufwerke zu verwandeln. Jetzt kann man alles in sie hineinschütten, und sie werden es reproduzieren und mit aller Kraft unterstützen“, schreibt Dmitry heute auf Facebook. „Dieser Krieg hat mir gezeigt, dass ich mein Heimatland endgültig verloren habe.“
„Sagt NEIN zu diesem Krieg!“
Pavlenko und Evgniy Glazunov gehören zu den Unterzeichnern eines Aufrufs, in dem der Ukraine-Krieg als „Schande“ bezeichnet wird: „Wir wollen nicht, dass unsere Kinder, die in einem Aggressorenland leben, sich dafür schämen, dass ihre Armee einen unabhängigen Nachbarstaat angreift. Wir fordern alle Bürger Russlands auf, NEIN zu diesem Krieg zu sagen.“
Mit ähnlich deutlichen Worten hat sich auch Alexander Gukov von der Invasion in der Ukraine distanziert. Der von ihm initiierte Offene Brief an Putin im Namen der russischen Bergsteiger wurde bisher von rund 350 Menschen unterzeichnet (wenn ihr es auch wollt, könnt ihr es hier tun). Darin heißt es auch: „Die Ukrainer sind unsere Freunde, mit denen wir Seite an Seite die schrecklichsten Prüfungen bestanden und auch schwierige Situationen in den Bergen geteilt haben.“
Meilenstein Everest-Südwestpfeiler
Wie vor 40 Jahren, im Frühjahr 1982 am Mount Everest. Damals standen russische und ukrainische Bergsteiger erstmals auf dem höchsten Berg der Erde – bei einer gemeinsamen Expedition von Topkletterern der damaligen Sowjetunion. Ihnen gelang ein echter Coup: Sie eröffneten (mit Flaschensauerstoff) eine neue, extrem schwierige Route über den Südwestpfeiler und den Westgrat zum Gipfel auf 8849 Metern. Bis heute wurde sie nie wiederholt.
Innerhalb von fünf Tagen erreichten insgesamt elf Teammitglieder den höchsten Punkt. Die ersten waren am 4. Mai 1982 zwei Russen, Vladimir Balyberdin (32 Jahre alt) und Eduard Myslovsky (44). Ihnen folgten noch am selben Tag die beiden Ukrainer Mikhail Turkevich (38) und Sergej Berchov (35) – sie waren die ersten, die den Gipfel des Everest in der Nacht erreichten. Beim Abstieg unterstützten sie ihre beiden erschöpften russischen Teamkollegen.
Kangchendzönga-Traverse und Lhotse-Südwand
1989 gelang Turkevich und Berchov gemeinsam mit den Russen Aleksandr Pogorelov und Yevgeni Vinogradski sowie dem Kasachen Anatoli Bukreev am 8586 Meter hohen Kangchendzönga in Nepal ein weiterer Meilenstein im Himalaya-Bergsteigen: die Überschreitung aller vier Gipfel des Massivs in beiden Richtungen.
Auch 1990 sorgte Berchov – wieder in einem ukrainisch-russischen Team – für einen Paukenschlag. Mit Vladimir Karatayev durchstieg er die 3300 Meter hohe Südwand des Achttausenders Lhotse – es war der erste unumstrittene Erfolg in der Wand. Der Slowene Tomo Cesen hatte den von ihm proklamierten erfolgreichen Solo-Aufstieg im selben Jahr nicht dokumentieren können.
Vor zehn Jahren feierte Berchov übrigens noch mit seinen russischen Teamkollegen von 1982 in Sotschi den Everest-Coup 30 Jahre zuvor. Vor dem Hintergrund des russischen Angriffs auf die Ukraine ist im Jubiläumsjahr 2022 wohl keinem Bergsteiger aus beiden Ländern zum Feiern zumute.