Ach, wären doch alle Everest-Bergsteiger Pinocchios. Dann wäre es ganz einfach, die Lügner von jenen zu unterscheiden, die die Wahrheit sagen. Wir bräuchten nur – wie bei der legendären Titelfigur von Carlo Collodis Kinderbuch – zu beobachten, ob ihre Nasen länger geworden sind, und schon hätten wir die Übeltäter ertappt. Auch in diesem Frühjahr wären wieder einigen Bergsteigern am Everest längere Nasen gewachsen.
So behaupteten die Inderin Vikas Rana und ihre Landsmänner Shobha Banwala und Ankush Kasana, am 26. Mai um 10.30 Uhr morgens den höchsten Punkt auf 8850 Metern erreicht zu haben. Nach Informationen der Zeitung „The Himalayan Times“ wurde das Trio jedoch nur rund zwei Stunden später bereits gut 3300 Meter tiefer gesichtet: zurück im Basislager. Um dies zu schaffen, hätten ihnen Flügel wachsen müssen. Andere Bergsteiger berichteten, das Trio sei nicht über Lager 3 auf rund 7150 Metern hinausgekommen. Am 26. Mai wehte zudem am Gipfel des Everest ein starker Wind. Erst einen Tag später erreichte wieder ein größeres Team den höchsten Punkt.
Zehn Bergretter der indisch-tibetischen Grenzpolizei haben nahe dem Siebentausender Nanda Devi im indischen Himalaya sieben Leichen geborgen. Sie seien unter einer anderthalb Meter Schneedecke begraben gewesen, teilte ein Vertreter der indischen Behörden mit. Nach einem achten Bergsteiger werde weiter gesucht. Die Gruppe unter Führung des erfahrenen britischen Expeditionsleiters Martin Moran war – wie berichtet – seit Ende Mai verschollen. Die Bergsteiger hatten sich an einem noch unbestiegenen 6477 Meter hohen Berg unweit des 7434 Meter hohen Nanda Devi East versucht.
Seinen Optimismus hat Nirmal, genannt „Nims“ Purja noch nicht verloren. „Wir machen Fortschritte, das Projekt läuft immer noch. Und ich werde es innerhalb von sieben Monaten abschließen, so wie ich es mir zum Ziel gesetzt habe“, twitterte der 36 Jahre alte Nepalese dieser Tage. In sieben Monaten will Nims alle 14 Achttausender bestiegen haben. In der Frühjahrssaison in Nepal lief alles nach Plan. Innerhalb von einem Monat und einem Tag stand er auf den Gipfeln von sechs Achttausendern: Annapurna (23. April), Dhaulagiri (12. Mai), Kangchendzönga (15. Mai), Mount Everest (22. Mai), Lhotse (22. Mai), Makalu (24. Mai). Die drei letztgenannten Gipfel hakte er innerhalb von 48 Stunden und 30 Minuten ab. Er stieg mit seinem Sherpa-Team mit Flaschensauerstoff über die Normalwege auf. Per Helikopter ließen sich die Bergsteiger zu den verschiedenen Basislagern fliegen.
Zwei Rettungsaktionen
Doch Purja sorgte nicht nur mit seinen Aufstiegen für Schlagzeilen. An der Annapurna gehörte er zu den Nepalesen, die die Fixseile bis zum Gipfel legten. Nach der Besteigung beteiligte er sich an der Rettungsaktion für den malaysischen Bergsteiger Wui Kin Chin. Den Rettern um Nims gelang es, Wui aus über 7000 Metern vom Berg zu bringen, doch er starb wenige Tage später in einem Krankenhaus in Hongkong. Am Dhaulagiri waren Purja und seine Begleiter die einzigen Bergsteiger, die in diesem Frühjahr den Gipfel erreichten – trotz schlechten Wetters. Am Kangchendzönga versuchte Nims, zwei indische Bergsteiger zu retten, denen, völlig entkräftet, beim Abstieg der Flaschensauerstoff ausgegangen war. Beide starben. Die meisten Schlagzeilen aber brachte dem Ex-Soldaten des britischen Gurkha-Regiments das Foto ein, das er am 22. Mai am Everest-Gipfelgrat machte. Das Bild, das eine lange Menschenschlange auf dem schmalen Grat zeigte, ging um die Welt.
Eigentlich wollte Nims Purja jetzt schon längst in Pakistan weilen – für die zweite Phase seines „14/7 Project Possible“: In diesem Sommer will er die fünf Achttausender Pakistans besteigen. Doch er musste seine Abreise aufschieben, weil ihm noch Geld fehlt, um sein Projekt fortzusetzen. Auf sein Haus in Großbritannien hat Nims bereits eine zweite Hypothek aufgenommen. Per Crowdfunding sammelt er Spenden (Wer ihn unterstützen will, kann dies hier tun – auf den Link klicken!). Ich habe Purja einige Fragen geschickt. Hier sind seine Antworten.
Nims, du hast in Nepal
in diesem Frühjahr auf sechs Achttausendern gestanden und lagst damit mit
deinem Projekt „Mission Possible“ voll im Zeitplan. Am meisten kämpfen musstest
du am Dhaulagiri. Wieviel Risiko musstest du gehen?
Peu a peu treffen die Expeditionsteams im Norden Pakistans ein, die sich in diesem Sommer an den Bergriesen des Landes versuchen wollen. Laut US-Bergblogger Alan Arnette hat die Regierung in Islamabad bislang knapp 400 Permits ausgestellt, alleine 164 für die pakistanische Südseite des K 2, des zweithöchsten Bergs der Erde. Zum Vergleich: Die chinesischen Behörden vergaben in der vergangenen Frühjahrssaison für die Nordseite des Mount Everest 142 Permits.
Ein K2-Permit für ein fünfköpfiges Expeditionsteam kostet 12.000 Dollar, also 2400 Dollar pro Person. Für jeden weiteren Bergsteiger werden 3000 Dollar fällig. Im Vergleich zum Everest ist das fast ein Schnäppchen: Sowohl auf der nepalesischen Südseite als auch auf der tibetischen Nordseite zahlt man 11.000 Dollar pro Nase, in Tibet ist darin eine Müllsammelgebühr von 1500 Dollar enthalten.
„Es ist nicht mein Ziel, Rekorde zu jagen“, sagt Ngima Nuru Sherpa. „Der Mount Everest ist mein Job.“ In diesem Frühjahr hat der 37-Jährige aus dem Dorf Tesho nahe Namche Bazaar, dem Hauptort des Khumbu-Gebiets, den Gipfel des Everest erreicht: „Ich bin bis jetzt der Jüngste, der zum 22. Mal oben war.“
Am 23. Mai stand Ngima Nuru am höchsten Punkt auf 8850 Metern, nachdem er über den Nordostgrat aufgestiegen war. „In diesem Jahr lag unterhalb des vorgeschobenen Basislagers mehr Schnee als 2018, dafür weniger Schnee oberhalb von 7900 Metern“, schreibt mir der Sherpa. Die ganze Zeit über sei es auf der tibetischen Nordseite sehr windig gewesen. „Am Nordsattel wurden viele Zelte beschädigt, der Wind fegte einiges an Ausrüstung vom Berg.“
„Hätte man bei der Erschaffung der Welt eine Kommission eingesetzt, dann wäre sie heute noch nicht fertig.“ An diese Erkenntnis, die dem irischen Schriftsteller und Politiker George Bernhard Shaw (1856-1950) zugeschrieben wird, musste ich denke, als ich heute las, dass der nepalesische Ministerpräsident Khadga Prasad Sharma Oli eine fünfköpfige Everest-Kommission berufen hat. Sie solle die jüngsten Todesfälle am Mount Everest untersuchen und die bestehenden Richtlinien für die Besteigung des höchsten Bergs der Erde überprüfen, wurde der Generalsekretär der Tourismusbehörde, Dandu Raj Sharma, zitiert.
Elisabeth Revol gehört nicht zu den Profibergsteigern, die ständig die Öffentlichkeit über ihre Pläne informieren und dann oft in Echtzeit an ihren Abenteuern teilhaben lassen. Als ihr Sponsor Valandre am 23. Mai darüber informierte, dass die 39-Jährige Französin den Everest ohne Flaschensauerstoff bestiegen habe, wusste kaum jemand, dass sie überhaupt am höchsten Berg der der Erde unterwegs war. Einen Tag später stand sie auch auf dem Gipfel des Lhotse.
Am vergangenen Samstag ruderte Valandre zurück. Weil Revol sich bis auf eine Höhe 8400 Metern vorakklimatisiert habe, sei man „irrtümlich“ davon ausgegangen, dass sie am Everest auf Flaschensauerstoff verzichtet habe, ließ das Unternehmen wissen.
Everybody’s Darling zu werden, gehört sicher nicht zu den Lebenszielen von Lukas Furtenbach. Der 41 Jahre Österreicher nimmt kein Blatt vor den Mund, wenn er seine Standpunkte vertritt. Das macht er offensiv und nennt auch öffentlich Ross und Reiter, wenn er jemanden kritisiert. Dass man sich damit nicht nur Freunde macht, liegt auf der Hand. Furtenbach polarisiert.
Vor fünf Jahren gründete Lukas sein Unternehmen „Furtenbach Adventures“. 2018 bot der Veranstalter erstmals eine „Everest Flash Expedition“ an. Das Konzept: Everest in vier Wochen – durch gezielte Vorbereitung mit einem speziell entwickelten Hypoxietraining und -system, mehr Flaschensauerstoff als allgemein üblich, mehr Sherpas. „Ich verwende und experimentiere mit Hypoxie seit fast 20 Jahren“, sagt Lukas.
2006 bestieg er den Cho Oyu, 2007 den Broad Peak. Den Gipfel des Everest erreichte Furtenbach bisher zweimal: 2016 über die Südseite – und in diesem Jahr über die Nordseite. In der abgelaufenen Saison war er mit zwei Gruppen am Start, einer „herkömmlichen“ Everest-Expedition mit sieben Teilnehmern und einer Flash Expedition mit fünf Teilnehmern. Dazu die beiden Bergführer Rupert Hauer und Luis Stitzinger, 21 Sherpas und er selbst. Alle erreichten den Gipfel. Nach seiner Rückkehr hat Lukas meine Fragen beantwortet.
Lukas, seit Wochen wird über die Lage auf der Südseite des Mount
Everest diskutiert, von der Nordseite redet kaum einer. Wie hast du die Saison
dort erlebt?
Heimliche Helden. Es gibt Akteure am Mount Everest, die jeder kennt und schätzt, aber über die kaum jemand redet. Wie die „Icefall Doctors“, jene hochspezialisierten Sherpas, die alljährlich den Weg durch den gefährlichen Khumbu-Eisbruch einrichten und über die gesamte Saison hinweg instand halten. Oder auch Maurizio Folini und Lakpa Norbu Sherpa, die mit ihrem rot-weiß-blau lackierten Hubschrauber des Unternehmens „Kailash Helicopter Services“ immer dann aufsteigen, wenn es gilt, in Not geratene oder auch ums Leben gekommene Bergsteiger vom Everest zu bringen. Der 53 Jahre alte Italiener und der 38 Jahre alte Nepalese sind seit langem ein eingespieltes Team. Auch in der abgelaufenen Saison haben sie die meisten Rettungsflüge gemeinsam absolviert.
Maurizio fliegt seit 2011 regelmäßig Einsätze im Himalaya. Lakpa Norbu wurde in der Schweiz als Hubschrauber-Retter ausgebildet. Er ist ein echter Spezialist, wenn es darum geht, Verletzte, Kranke oder auch Tote am langen Seil abzutransportieren. Maurizio Folini hat sich nach seiner Rückkehr aus dem Himalaya die Zeit genommen, meine Fragen zu beantworten. Ich weiß das zu schätzen, denn Zeit hat Maurizio selten. Inzwischen fliegt er wieder in der Schweiz.
Maurizio, die Everest-Saison
liegt hinter dir. Auf wie viele Flugstunden und wie viele Rettungseinsätze bist
du gekommen?
Es gibt so gut wie keine Hoffnung mehr, die seit Tagen im indischen Himalaya vermissten acht Bergsteiger noch lebend zu finden. Die indischen Behörden teilten mit, von einem Rettungshubschrauber aus seien auf einer Höhe von über 5000 Metern fünf Leichen entdeckt worden. Die Körper seien in einem Bereich gesichtet worden, in dem eine, wie es hieß, „riesige Lawine“ abgegangen sei. Man gehe davon aus, dass es sich um fünf der Vermissten handele und dass auch die übrigen drei Bergsteiger in der Gegend ums Leben gekommen seien.