Norrdine Nouar nach Annapurna-Gipfelerfolg: „Ich bin noch in der Achttausender-Lernphase“

Norrdine Nouar am Gipfel der Annapurna I
Norrdine Nouar am Gipfel der Annapurna I

Norrdine Nouar hat seinen zweiten Achttausender ohne Flaschensauerstoff bestiegen. Am vergangenen Sonntag (14. April) stand der 36 Jahre alte deutsche Bergsteiger auf dem 8091 Meter hohen Gipfel der Annapurna I im Westen Nepals. Im Frühjahr 2023 hatte Nouar bereits den 8516 Meter hohen Lhotse bestiegen. Norrdine schloss sich in beiden Fällen keinen großen Teams an, sondern war alleine unterwegs – auf den Normalrouten, die von den kommerziellen Teams mit Fixseilen gesichert wurden.

Nouar war ein Spätzünder in Sachen Bergsteigen. Weder seine Familie noch seine Freunde zog es in die Berge. Er ist der Sohn eines gebürtigen Algeriers, der als Gastarbeiter in die damalige DDR kam und dort seine spätere deutsche Frau kennenlernte. Norrine wuchs in Franken auf, studierte Internationales Technologie-Management und beschäftigte sich in seiner Freizeit eher mit Computerspielen, als hinaus in die Natur zu gehen.

Warum packte ihn dann doch irgendwann das Bergfieber? „Seit ich denken kann, begleitet mich eine ungestillte Neugier, Abenteuerlust und der ständige Drang einer neuen Herausforderung, die es zu meistern gilt“, schreibt Norrdine auf seiner Internetseite. „Ich konnte nicht anders, als mich für ein ungewisses Abenteuer zu entscheiden. Also ging ich, wenn auch spät, in die Berge.“ Mit 23 Jahren erreichte er seinen ersten Gipfel. Später bestieg er Viertausender in den Alpen, im Hohen Atlas in Marokko und auch hohe Berge im Kaukasus und anderen Bergregionen der Welt. Unter anderem stand Nouar auf den Gipfeln des Mont Blanc, des Elbrus und des Kilimandscharo. Er lebt in Oberstaufen im Allgäu.

Nach seinem Gipfelerfolg an der Annapurna hat Norrdine, aktuell in Kathmandu, meine Fragen beantwortet.

Danke vielmals! Es war ein hartes Stück Arbeit und ein bitterkalter Aufstieg durch die Nacht, um den Gipfel zu erreichen. Da waren diesmal mehrere Dinge. Zunächst mal war ich froh, dass ich den Gipfel überhaupt erreicht hatte, denn ich hatte unterwegs mindestens drei Mal gedacht, dass ich umdrehen müsste. Ich hatte ernsthaft Sorge, entweder Erfrierungen zu erleiden oder auf dem Weg nach oben aus Erschöpfung einfach sitzen zu bleiben, wie es schon so vielen passiert ist. Wenn man den Gipfel erreicht, ist man einfach nur froh, dass die Tortur vorbei ist und dass man bald wieder absteigen kann, um sein Leben in Sicherheit zu bringen. 

Darüber hinaus habe ich mir von dort oben die verschiedenen Erhebungen auf dem Gipfelgrat angesehen und musste über die Debatte um den „True Summit“ der Annapurna nachdenken. Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass diese Debatte völlig lächerlich ist. Ich bin mir ziemlich sicher, dass die alpinen Legenden von damals niemals einen Berg um ihren Gipfel hätten betrügen wollen, so wie es heute vielleicht Mode ist. Außerdem sind die drei Erhebungen, die ich dort gesehen habe, mehr oder weniger alle gleich hoch und ändern sich wahrscheinlich jährlich, je nach Witterung, Wind und Schneefall. 

Zuletzt war ich glücklich, dass die Wolken rund um den Gipfel verschwunden sind und ich so früh am Morgen einen phänomenalen Ausblick genießen konnte. Es war ein wahnsinnig erhabenes Gefühl.

Der Lhotse wird gerne außer Acht gelassen, da er ja nur der „kleine Bruder“ des Everest ist. Man darf aber nicht vergessen, dass er der vierthöchste Berg der Welt ist und der Aufstieg über seine Flanke und sein Couloir extrem steil ist. Daher ist der Lhotse besonders eine sehr körperliche und mentale Herausforderung. Es war letztes Jahr auch ein sehr besonderer Tag, denn ich war mutterseelenallein im Lhotse Couloir, hatte den gesamten Tag niemanden gesehen und hatte den Gipfel ganz für mich allein. Darüber hinaus war ich in der Saison der einzige Bergsteiger, der ohne Flaschensauerstoff auf dem Lhotse war. Das hatte schon ein bisschen das Gefühl von „solo“. 

Norrdine im Zelt an der Annapurna
Norrdine im Zelt an der Annapurna

Die Besteigung der Annapurna hingegen fühlte sich auf vielfache Weise komplex an. Das Wetter ist unberechenbar, die Lawinengefahr jeden Tag extrem hoch und der Weg hinauf zu den Lagern 3 und 4 sehr anspruchsvoll und nicht gerade einfach. Die Todesrate an der Annapurna zeigt dies ganz eindeutig, und man darf sich glücklich schätzen, wenn man diesen Berg ohne Zwischenfall besteigen und auch wohlbehalten wieder absteigen konnte. 

Das ist ein ganz wichtiger Punkt, den du ansprichst und der mich sogar sehr umgetrieben hat, während ich im Lower Camp 4 auf 6600 Metern in meinem Zelt lag. In meinen kühnsten Träumen sehe ich mich natürlich selbst, wie ich im ganz reduzierten Alpinstil eine Solo-Route oder mit einem Seilpartner eine neue Route auf einen dieser Gipfel eröffne. Ich muss leider feststellen, dass das Gehen an Fixseilen nicht meiner Vorstellung vom Ideal des Bergsteigens und des Alpinismus entspricht. Ich bin quasi, um es mit Reinhold Messners Worten zu beschreiben, derzeit lediglich „a Schneehatschera“ (Schneeschleicher). Daher muss ich mir für meine nächsten Besteigungen ernsthaft Gedanken machen, wie und wann ich in Zukunft weitere Achttausender besteige.

Tiefblick aus dem Zelt von der Annapurna
Tiefblick aus dem Zelt

Dennoch bin ich gleichzeitig nachsichtig mit mir selbst. Im Grunde bin ich ein Achttausender-Neuling und muss erstmal meine Erfahrungen sammeln, diese hohen Berge verstehen, die Winde, die Temperaturen, das Wetter, die Risiken genauso wie die Grenzen meines Körpers und meiner mentalen Stärke. Auch, wenn man schon viel Erfahrung in den Alpen oder an anderen Bergen gesammelt hat, bleibt das Achttausender-Bergsteigen eine völlig andere Kategorie und muss dementsprechend auch „neu erlernt“ werden. Ich befinde mich gerade in dieser Lernphase und sammle meine Erfahrungen an diesen hohen Bergen.

Ich muss bei meinen Touren am Berg auch immer berücksichtigen, dass ich mit dem Verlust meines Lebens auch viel Schmerz und Leiden in meinem Freundeskreis und bei meiner Familie auslösen würde. Mit dieser Verantwortung darf man nicht leicht und unbedacht umgehen. Aber ja! Ich habe tatsächlich schon eine Idee für ein Projekt im Alpinstil, das ich nächstes Jahr an einem der Achttausender umsetzen möchte. Aber dazu muss ich wohl erstmal den richtigen Seilpartner und die entsprechende Finanzierung finden. Aber du kannst gespannt sein! 

Ich habe einen unheimlichen Respekt vor dieser Herausforderung. Ich glaube, es ist eines der anspruchsvollsten Dinge, die ein Mensch körperlich und mental durchleben kann. So viele Top-Bergsteiger und die besten Alpinisten sind bereits am Everest ohne Flaschensauerstoff gescheitert, darüber hinaus verschwinden ständig Solo-, no-O²-Bergsteiger an den Achttausendern im ewigen Eis. Ich habe meine Hausaufgaben gemacht, Erfahrung gesammelt, trainiert wie verrückt und mit der Besteigung der Annapurna eine wichtige Akklimatisierungseinheit absolviert. Kurzum, ich habe nach bestem Wissen und Gewissen ideale Voraussetzungen für eine erfolgreiche Besteigung geschaffen. Das letzte Wort hat nun der Berg und vor allem das Wetter beziehungsweise der Wind. Daher rechne ich mir eine 50/50-Chance aus. Das Ziel muss jedoch sein, unbeschadet vom Berg herunterzukommen, mit oder ohne Gipfelerfolg. Denn kein Berg und kein Gipfel ist es wert, dass man dafür irreversible Schäden in Kauf nimmt. 

Sonnenaufgang am Mount Everest
Sonnenaufgang am Mount Everest (im Herbst 2019)

Tja, wenn ich bereits gut genug wäre oder einen Seilpartner hätte, würde ich am liebsten das Hornbein-Couloir durchsteigen. Nein, ernsthaft – ich habe zwei Optionen. Entweder einer der Ersten zu sein und kurz hinter dem Fix-Seil-Team aufzusteigen, indem ich am Vorabend rund vier Stunden vor den Leuten losgehe, die mit Atemmasken unterwegs sind. Oder ich nutze ein potenzielles zweites oder drittes Wetterfenster, wenn der große Andrang weg ist und sich die Massen bereits verteilt haben oder auf dem Weg nach unten sind. Das hängt jedoch sehr davon ab, wie robust und gut akklimatisiert mein Körper ist und ob die Akklimatisierung an der Annapurna ausreichend war.

Sollte ich das Gefühl haben, dass ich noch nicht fit genug für die Höhe bin, muss ich nochmal runter ins Lager 2 (auf 6400 Metern), während die Teilnehmer mit Flaschensauerstoff einfach weitergehen können. Es hängt also von mehreren Faktoren ab und muss sehr situativ betrachtet und beurteilt werden. Die momentanen Schwierigkeiten am Khumbu-Eisbruch, um zu den höheren Camps zu gelangen, könnten beispielsweise einen Einfluss auf die gesamte Saison haben und womöglich Vorboten eines großen Unheils am Everest sein. Ich hoffe sehr, dass wir den letztjährigen traurigen Rekord an Toten am Everest nicht erneut brechen.

2 Antworten auf „Norrdine Nouar nach Annapurna-Gipfelerfolg: „Ich bin noch in der Achttausender-Lernphase““

  1. Wow, ein super Typ mit der richtigen Einstellung. Respekt und Glückwunsch. Und natürlich viel Erfolg für ihn am Everest 👏.
    Da kann man in den nächsten Jahren eventuell einiges von ihm erwarten!!

  2. Wow, ein großartiger Erfolg und ein sehr schönes Interview. Ich bin sehr stolz auf Norrdine und ich bin mir sicher dass wir noch viel schönes von ihm sehen und hören werden. Wir, seine Familie, wünschen Norrdine das Allerbeste und sind immer bei ihm.

Kommentare sind geschlossen.

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