Heute ist Everest-Tag. Immer am 29. Mai feiert Nepal mit zahlreichen Veranstaltungen – wie dem Everest-Marathon vom Basislager hinunter nach Namche Bazaar – den Jahrestag der Erstbesteigung des höchsten Bergs der Erde durch den Neuseeländer Edmund Hillary und den Sherpa Tenzing Norgay im Jahr 1953. Vielleicht auch mal eine Gelegenheit, sich Gedanken darüber zu machen, ob und wenn ja, was am Mount Everest aktuell schief läuft.
Selten bin ich so oft auf den Everest angesprochen worden wie in den vergangenen Tagen, auch von Leuten, die mit Bergsport absolut nichts am Hut haben. Die hohe Zahl der Todesfälle in dieser Saison und das von Nirmal Purja veröffentlichte Bild vom 22. Mai, das eine lange Menschenschlange auf dem Gipfelgrat zeigt, haben den Everest wieder mal weltweit in die Schlagzeilen gebracht, auch in den Mainstream-Medien. Meist wurde nur schwarz-weiß gemalt. Und ich sah mich gezwungen, den üblichen Vorurteilen und Klischees entgegenzutreten. Nein, es ist auch jetzt noch kein Spaziergang auf den Everest. Nein, nicht alle Gipfelkandidaten sind nur Egomanen, die mit Bergsteigen normalerweise nichts am Hut haben. Nein, nicht alle Expeditionsveranstalter sind skrupellose Geschäftemacher. Nein, nicht alle Regierungsbeamte in Nepal sind korrupt.
Nur ein „virales Bild“?
Aber wird der Everest wirklich nur durch ein „virales Bild eines ‚Staus‘ am 22. Mai 2019 in den Dreck gezogen“, wie es Karma Tenzing auf Twitter schreibt. Er selbst habe den höchsten Punkt auf 8850 Metern am 15. Mai erreicht und dort eine Stunde verbracht, von Stau keine Spur, so Karma. Das gelte für 364 von 365 Tagen im Jahr. Also alles kein Problem?
„Besseres Management“
„Es liegt nicht am Stau, dass es Todesfälle gab“, sagte gestern auch ein Vertreter des nepalesischen Tourismusministeriums und verwies auf die Wetterbedingungen, unzureichende Sauerstoffvorräte und schlechte Ausrüstung als Ursache für die vergleichsweise hohe Zahl von elf Toten in diesem Frühjahr am Everest. Man werde als Konsequenz jedoch 2020 nicht die Zahl der Permits reduzieren, sondern einfach im Gipfelbereich zwei Seile verlegen, um ein „besseres Management des Bergsteiger-Durchflusses“ zu erreichen. Zwei Spuren auf dem schmalen Gipfelgrat? Spannend!
Stau mit Ansage
Von „Management“ am Everest zu sprechen, erscheint mir derzeit mehr als gewagt. Der Verbindungsoffizier der Regierung im Basislager verkündete am 20. Mai via Facebook, dass zwei Tage später 297 Menschen den Gipfel erreichen wollten. Der Stau entwickelte sich also quasi mit Ansage, er wurde wissentlich in Kauf genommen, inklusive Risiko. Denn dass die Gefahr, dass der Sauerstoff knapp wird, extrem steigt, wenn man über zwei Stunden am Südgipfel auf 8750 Metern warten muss, wird wohl wohl niemand bestreiten.
Emotionaler und finanzieller Alptraum
Es hilft nicht, einfach den Kopf in den Sand zu stecken und so zu tun, als sei alles normal und müsse so sein. Wenn Menschen sterben, muss es erlaubt sein, darüber zu diskutieren, ob ihr Tod hätte verhindert werden können. Die Bergsteiger, die am Everest ums Leben gekommen sind, hinterlassen Familien, die nicht nur einen emotionalen Alptraum erleben, sondern unter Umständen auch einen finanziellen. Zumindest im Falle der Sherpas ist dies nicht die Ausnahme, sondern eher die Regel. Allen Hinterbliebenen gilt mein Mitgefühl.
Kaum „klassische“ Bergunfälle
Doch auch sie werden gewusst und gefürchtet haben, dass ihren Angehörigen am Everest etwas zustoßen könnte. Schließlich sind Berge nach wie vor ein Gefahrenraum, mit Risiken, die nur schwer kalkulierbar sind, wie Lawinen, Steinschlag oder Wettersturz. Im Himalaya kommt die extrem dünne Luft als Risikofaktor dazu. Nur einer der elf Todesfälle am Everest war ein eher „klassischer“ Bergunfall: Ein Ire rutschte beim Abstieg aus und stürzte in die Tiefe. Die anderen zehn Todesfälle hingen mit Sauerstoffmangel, Entkräftung und daraus folgender Höhenkrankheit zusammen. War der Tod dieser Menschen wirklich unvermeidlich?
Eigene Fähigkeiten werden überschätzt
Aus meiner Sicht sind nicht nur am Everest, sondern auch an anderen, technisch deutlich schwierigeren Achttausendern zu viele zahlende Kunden unterwegs, denen die nötige alpinistische Erfahrung fehlt, um einen so hohen Berg mit einem gesunden Maß an Eigenverantwortung anzugehen. Es kann und darf nicht sein, dass Everest-Anwärter im Basislager angeleitet werden müssen, wie sie ihre Steigeisen anlegen sollen. Diese Gipfelaspiranten überschätzen ihre Fähigkeiten und unterschätzen die Gefahr. Sie glauben, dass sie 100 Prozent Sicherheit kaufen können.
An Personal und Sauerstoff wird gespart
Auf der anderen Seite vertrauen sie ihr Leben aber häufig gerade jenen Expeditionsveranstaltern an, die ihre Kundschaft mit Dumpingpreisen anlocken. Diese Anbieter verschweigen gerne, an welcher Stelle sie Kosten sparen: bei der Qualität des Personals und der Menge an Sauerstoffflaschen. Letztere wird so niedrig kalkuliert, dass sie für den Aufstieg und einen schnellen Abstieg reicht, für einen Notfall aber häufig nicht. Einhalt könnte unter Umständen die Regierung bieten, doch seit Jahrzehnten drückt sie sich um strenge Everest-Regeln.
Zahl der Permits deckeln
Ich bin skeptisch, ob die bereits überdrehte Schraube am Mount Everest wirklich wieder zurückgedreht werden kann. Zu viele Menschen hängen wirtschaftlich an der Nabelschnur des Bergtourismus. Aus meiner Sicht wäre es notwendig, die Anzahl der Genehmigungen zu begrenzen, denn Massen am Berg erhöhen das Risiko. Für Expeditionsleiter sollten verbindliche Standards gelten: z.B. begrenzte Anzahl von Teammitgliedern, Bergführer mit internationalen Zertifikaten, ausreichend Flaschensauerstoff. Und die Gipfelkandidaten sollten verpflichtet werden, ein ausreichendes Maß an Bergerfahrung nachzuweisen.
Vielleicht wäre es auch eine Idee, Fixseile – wie früher – nur an den echten Schlüsselstellen und nicht auf der gesamten Route zum Gipfel zu legen und Flaschensauerstoff nicht bereits in Lager 2 auf 6600 Metern auszugeben, sondern erst am Südsattel auf knapp 8000 Metern. Dann stießen wahrscheinlich viele schon weiter unten an ihre Grenzen.
Umdenken ist nötig
Wichtiger als alle Vorschriften erscheint mir jedoch bei allen Beteiligten eine Abkehr von der weit verbreiteten Hybris und eine Rückkehr zur Demut: vor dem Berg mit all seinen Risiken und vor den eigenen Grenzen. Und das nicht nur am Everest-Tag.
Lieber Stefan,
Dein Artikel spricht mir aus dem Herzen. Er thematisiert die tatsächlichen Probleme des kommerziellen Expeditionsbergsteigens. Ich fürchte jedoch, dass die von dir ausgeführten Lösungsansätze sowohl von der nepalesischen Regierung als auch den Veranstaltern ignoriert wird. Da steckt einfach zu viel Geld dahinter …. und Demut wird in unserem Kulturkreis zunehmend allenfalls als ein Relikt aus Ritterfilmen betrachtet.
Herzlichst Marc
… dann lass‘ wenigistens uns die Ritter sein, lieber Marc! 😉
In der Diskussion, wie man den Massenandrang am Everest und Mont Blanc verhindern könnte, kommt man immer zu der Frage, ob diese Gipfelaspiranten überhaupt richtige Bergsteiger sind. Die meisten natürlich nicht. Für einen Bergsteiger gilt: Der Weg ist das Ziel. Für die meisten Everestbesteiger ist nur der Gipfel wichtig. Es erhebt sie, wenn sie sagen können: Ich war auf dem Everest. Der Massenandrang wird sofort weniger, wenn man mit dem Gipfel nicht mehr angeben kann. Die einfachste Lösung: Baut eine Seilbahn auf die Gipfel. Am Kilimandscharo wird das gerade diskutiert. An der Marmolada und an der Aiguille di Midi funktioniert das schon prima. Dort ist Ruhe in allen Routen, auch an den Normalwegen.
Provokation hilft beim Nachdenken über Probleme.
Hi, das Problem liegt doch am Preis. Wenn man die Permits begrenzen würde und zur Hälfte versteigern wäre doch vielen geholfen. Zusätzlich ein Mindestlohn für Sherpas. Können sich ja eh nur noch Reiche leisten den Berg zu erklimmen. Permit 100000. Nachfrage bleibt die Gleiche. LG