Die Kurven sprechen eine eindeutige Sprache. Laut der John-Hopkins-Universität in den USA, die alle offiziell gemeldeten Coronavirus-Fälle weltweit registriert, ist der Höhepunkt der Pandemie in Nepal noch nicht erreicht. Seit Anfang Mai steigt die Kurve kontinuierlich an – rund 5000 Infektionen wurden bisher registriert, 16 COVID-19-Todesfälle. Die Dunkelziffer dürfte sehr hoch sein, angesichts der vergleichsweise niedrigen Zahl an Coronavirus-Tests. Gestern beendete die Polizei in Kathmandu mit Wasserwerfern eine Kundgebung von rund 1000 Menschen vor dem Haus von Ministerpräsident Khadga Prasad Oli. Die Demonstranten hatten unter anderem mehr Corona-Tests als bisher gefordert. Der strenge Lockdown in Nepal ist seit dem 24. März in Kraft und gilt vorerst bis diesen Sonntag. Oli hat leichte Lockerungen angekündigt.
Erfolgreicher Bergsteiger-Funktionär und -Unternehmer
Der Stillstand des öffentlichen Lebens hat die Bergtourismus-Branche des Himalaya-Staates schwer getroffen. Ich habe dazu Ang Tshering Sherpa befragt. Der 66-Jährige stand viele Jahre lang an der Spitze des nepalesischen Bergsteigerverbands NMA und ist Ehrenmitglied der UIAA, des Weltverbands der Bergsteiger und Kletterer. Ang Tshering stammt aus dem Dorf Khumjung im Khumbu-Gebiet und gehörte zu den ersten Schülern der Edmund Hillary School, finanziert und gebaut vom Himalayan Trust, der Hilfsorganisation des Everest-Erstbesteigers aus Neuseeland. 1982 gründete Ang Tshering Sherpa Asian Trekking, einen der führenden Anbieter von Expeditionen und Trekkingreisen in Nepal. Inzwischen steht sein Sohn Dawa Steven Sherpa an der Spitze des Unternehmens.
Ang Tshering, hast du Verständnis für Menschen, die aus Sorge vor der Corona-Pandemie ihre Pläne für eine Nepalreise erst einmal auf Eis gelegt haben?
Ja, ich kenne viele Menschen, die aus Sorge über die Corona-Pandemie ihre Reisen auf Eis gelegt haben. Viele Teilnehmer von Trekkingreisen und Expeditionen waren gezwungen abzusagen, nachdem die Regierung Reisebeschränkungen verhängt und den Flugverkehr gestoppt hatte, um die Ausbreitung des Virus einzudämmen. Viele Bergsteiger haben ihre Pläne auf nächstes Jahr verschoben. Aber da die Pandemie andauert und sich auch auf ihre wirtschaftlichen Verhältnisse auswirkt, befürchte ich, dass viele Reisende möglicherweise nicht mehr über das nötige Budget verfügen, um in naher Zukunft auf Expeditionen zu gehen.
In Nepal gilt weiterhin ein strenger Corona-Lockdown. Wie geht es den Menschen in den Bergregionen, die vom Tourismus leben?
Wir leben jetzt schon seit mehr als zwei Monaten unter dem strengen Lockdown. Die Menschen in den Bergen, die vom Tourismus leben, haben es schwer – vor allem die Träger, die von der Hand in den Mund leben und auf Tageslöhne angewiesen sind. Natürlich sind auch die Trekking-Guides und Climbing Sherpas betroffen, aber sie haben in der Regel einige Ersparnisse zurückgelegt, auf die sie in harten Zeiten zurückgreifen können. Normalerweise reicht für alle das Einkommen aus der Frühjahrssaison, um für den Rest des Jahres über die Runden zu kommen. Jetzt befürchten wir, dass auch die Herbstsaison von der Corona-Krise stark betroffen sein wird. Auf lange Sicht können die Sherpas und alle anderen, die vom Tourismus leben, nicht ohne Einkünfte überleben. Die Menschen in den Bergen sind von jeder nationalen und internationalen Krise am stärksten betroffen, weil die Lebenshaltungskosten dort aus logistischen Gründen und aufgrund des für die landwirtschaftliche Versorgung schwierigen lokalen Klimas so hoch sind und alles hochgetragen werden muss.
In Kathmandu gibt es Hunderte von Hotels sowie Expedition- und Trekkingagenturen. Viele von ihnen leben von der Hand in den Mund. Haben einige von ihnen schon das Handtuch werfen müssen?
Die Dienstleistungsbranche wie der Tourismus und die Hotellerie sind von der Corona-Krise am stärksten betroffen. Viele Hotels haben beschlossen, für sechs Monate geschlossen zu bleiben und ihre Mitarbeiter nach Hause zu schicken. Sie können ihre Gehälter nicht weiter zahlen, weil durch den Lockdown kein Geld mehr ins Land kommt. Sie erwarten, dass frühestens 2021 wieder Touristen Nepal besuchen werden. Von den mehr als 2600 Reisebüros, 2000 Trekking-Agenturen, Rafting-Agenturen, Expeditionsveranstaltern, Hotels, Lodges und Restaurants mussten die meisten ihren Betrieb nach dem Lockdown einstellen. Das hat zum Verlust vieler Arbeitsplätze der Menschen geführt hat, die direkt und indirekt mit der Reisebranche, Hotels, Trekking und Bergsport zu tun hatten. Da wir uns immer noch im Lockdown befinden, ist es noch zu früh, um den Gesamtschaden zu beurteilen. Erst nach der Aufhebung des Lockdowns werden wir genau wissen, wie viele Konkurse und dauerhafte Schließungen von Betrieben es gegeben hat.
Zu Beginn der Krise war aus Nepal häufig zu hören, dass man eine Saison ohne Touristen irgendwie überleben könne und dass dann eben die ausländischen Besucher im Oktober oder November kommen müssten. Setzen die Menschen immer noch große Hoffnungen auf die Herbstsaison?
Angesichts der rückläufigen Wirtschaft und des weltweiten Verlustes von Arbeitsplätzen aufgrund der Corona-Krise sowie der Zunahme der Corona-Fälle in Nepal bezweifle ich, dass Nepal eine gute Herbstsaison haben wird. Trotzdem versuchen wir, optimistisch zu bleiben.
Die Regierung Nepals hat wiederholt erklärt, sie berate über Hilfsprogramme für die Branchen, die von der Corona-Pandemie besonders hart getroffen wurden. Gibt es schon irgendein konkretes Programm für den gebeutelten Bergtourismus?
Die Regierung hat kürzlich angekündigt, im Rahmen des Staatshaushalts den einheimischen Tourismus zu fördern. Sie hat jedoch keine spezifischen Hilfsprogramme für den Tourismussektor genannt. Um ehrlich zu sein, ich glaube nicht, dass die Regierung die Mittel hat, um sehr viel zu tun, selbst wenn sie es will. Aus diesem Grund bereiten wir uns im privaten Sektor und bei den Nicht-Regierungs-Organisationen darauf vor, selbst das Notwendige zu tun, um uns von den wirtschaftlichen Auswirkungen zu erholen. Wenn die Regierung in der Lage ist, uns dabei zu unterstützen, wäre das ein großer Bonus.
Everest-Rekordhalter Kami Rita Sherpa hat im März vorgeschlagen, die Pause am Everest zu nutzen, um den Berg zu säubern. So hätten Guides und Träger Jobs erhalten. Warum ist es nicht dazu gekommen?
Sowohl die Regierung als auch die Nepal Mountaineering Association haben diese Idee mit der Begründung abgelehnt, dass dies während des Lockdown nicht möglich sei. Ich denke, die Regierung musste auch die Berge abriegeln, um für Solidarität zu sorgen. Hätte sie eine Ausnahme gemacht, hätte es Proteste und Kritik aus den anderen Bereichen der Gesellschaft gegeben, insbesondere wenn sich das Coronavirus unter den Sherpas verbreitet hätte. Die Regierung wollte nicht riskieren, eine solche Situation heraufzubeschwören.
Wie lange wird der Bergtourismus in Nepal nach deiner Einschätzung brauchen, um sich von der Corona-Krise zu erholen?
Viele Länder in der Welt durchleben harte wirtschaftliche Zeiten, einige Staaten sind wegen ihres Corona-Lockdowns bereits in eine Rezession geraten. Die nepalesische Tourismusindustrie hängt von der guten wirtschaftlichen Gesundheit der internationalen Gemeinschaft ab. Solange sich die Weltwirtschaft in einem Abschwung befindet, ist es daher nicht realistisch, Touristenzahlen zu erwarten wie in der Zeit vor dem Corona-Lockdown.
Dennoch hat Nepal aus dem Erdbeben von 2015 wertvolle Lehren gezogen. Wir haben gelernt, dass der Aufschwung schneller erreicht werden kann, wenn wir hart arbeiten, alle Wirtschaftsbereiche zusammenwirken und wir die Hoffnung nicht verlieren. Wir haben den Vorteil, dass wir den wirtschaftlichen Absturz nach dem Erdbeben überlebt haben. Wir wissen also, dass bessere Tage kommen werden, selbst wenn die Umstände jetzt schlecht aussehen.