57 Tage, 18 Stunden, 50 Minuten physische und psychische Anstrengung, Einsamkeit, unendliche Weite der Antarktis, Gletscherspalten, stark schwankende Temperaturen, die tiefste bei minus 35 Grad Celsius, Unwetter, Sturm. Dann erreichte die deutsche Abenteurerin Anja Blacha am 9. Januar überglücklich den Südpol. Am 12. November war die 29-Jährige von der Berkner-Insel im Nordwesten des eisigen Kontinents gestartet. Alleine, ohne Unterstützung von außen legte Anja die 1381 Kilometer bis zum Pol zurück, auf Skiern, ihren anfangs 100 Kilogramm schweren Schlitten hinter sich her ziehend.
Von den höchsten Bergen ins ewige Eis
2017 hatte Blacha, damals 26 Jahre alt, als bisher jüngste deutsche Frau den Mount Everest bestiegen, mit Flaschensauerstoff. 2019 stand sie als erste deutsche Bergsteigerin überhaupt auf dem K2, dem zweithöchsten Berg der Erde – ohne Atemmaske. Auf die hatte sie bereits wenige Wochen zuvor verzichtet, als sie den benachbarten Achttausender Broad Peak bestiegen hatte.
Anja Blacha ist in Bielefeld in Nordrhein-Westfalen aufgewachsen. Heute lebt sie in Zürich. Dort arbeitet sie im Management eines Schweizer Telekommunikationsunternehmens, das ihren Abenteuern offenkundig sehr tolerant gegenübersteht: Im vergangenen Jahr verbrachte Anja schließlich im Schnitt jeden dritten Tag auf Expedition. Nach ihrer Rückkehr aus der Antarktis und nachdem Anja sich ein wenig von den Strapazen erholt hat, beantwortete sie meine Fragen.
Anja, zunächst einmal herzlichen Glückwunsch. Wie fühlst du dich nach 57 einsamen Tagen in der Antarktis?
Vielen Dank! Erstaunlich gut und der Alltag holt einen doch recht schnell wieder ein. Allerdings hatte ich mir durchaus am Ende der Expedition erst noch ein paar Tage am Südpol-Camp und Union Glacier als „Decompression Zone“ gegönnt, um das Erlebte etwas zu verarbeiten.
Worauf hast du dich am meisten gefreut, als du den Südpol erreicht hast?
Einen Tag lang einfach gar nichts zu tun.
Allerorten wird über den Klimawandel und seine Folgen diskutiert. Bist du von den klimatischen Bedingungen in der Antarktis überrascht worden?
Wirklich überrascht wurde ich von den klimatischen Bedingungen nicht, dazu haben sich schon in den Vorjahren zu sehr Veränderungen abgezeichnet. Allerdings haben sie meine Expedition beeinflusst – in Form von warmen Temperaturen, hoher Luftfeuchtigkeit und Niederschlag oder extremen Unwettern, wie dem, das ich direkt am Anfang der Expedition erfahren musste. Die Meteorologen erklärten mir dazu, dass sie beispielsweise seit kurzem beobachten, dass bestimmte Wettersysteme ungebremst quer über die Kontinentalplatte ziehen, die bislang an der Küste blieben, und dass dieses Jahr sogar Temperaturen oberhalb der Null-Grad-Celsius-Grenze gemessen wurden.
Du warst knapp zwei Monate alleine im ewigen Eis unterwegs, deine Skier und der Schlitten waren deine einzigen Begleiter. Womit hast du mehr gekämpft, mit den körperlichen oder den psychischen Herausforderungen?
In der Vorbereitung war ich mehr um die körperlichen Herausforderungen besorgt. Allerdings ist es der Kopf, der entscheidet, wie viel man sich, seinem Körper Tag für Tag abverlangt, wie gut man über den langen Zeitraum Energie und Motivation behält und wie man mit der Abgeschiedenheit umgeht. So glaube ich, war in der Durchführung die psychische Herausforderung die grössere, wichtigere zu meistern.
Zu kämpfen hatte ich persönlich insbesondere dann, wenn Kopf und Körper nicht überein mit sich und den Bedingungen kommen wollten. Also, wenn der Kopf wollte, aber der Körper nicht mehr konnte. Oder wenn ich mich von vermeintlich schlechten Bedingungen habe blenden lassen, sodass ich in Bezug auf Geschwindigkeit nicht ausreichend gepusht habe, sondern mehr Stunden anhängen musste.
Du hast 2017 den Mount Everest bestiegen, im Sommer 2019 die Achttausender Broad Peak und K2. Lassen sich die Strapazen an den höchsten Bergen der Welt mit jenen im ewigen Eis vergleichen?
Die Anforderungen unterscheiden sich stark. An den Bergen hat man, bis auf den Gipfeltag, meist deutlich kürzere Tagesetappen, während derer man sich anstrengen muss. Man verbringt viel Zeit in den Camps und hat den Komfort eines fest eingerichteten Basislagers. Man achtet darauf, sich so wenig wie möglich zu verausgaben, nur das Notwendige zur Akklimatisierung zu tun. Bei vielen baut zudem der Körper über den langen Expeditionszeitraum zunehmend ab. Beim Auf- und Abstieg selber verlangt es dafür dann nach absolutem Fokus. Schon ein Fehltritt oder ein zu spät bemerkter Steinschlag können schnell fatal sein.
Auf Polarexpeditionen hingegen gibt es praktisch keine Ruhetage – Schlechtwetter heisst nicht, dass man nicht trotzdem weiter kann und sollte. Man ist jeden Tag gefordert und zwar den gesamten Tag, muss morgens das Camp ab- und abends neu aufbauen. Man kann über Wochen nicht duschen, frisches Essen geniessen oder einfach mal aufrecht auf einem Stuhl sitzen, wie man es alles in einem Basislager kann. Dafür gewöhnt sich der Körper zunehmend an die Dauerbelastung. Er baut zwar nicht unbedingt Muskeln auf, aber es lässt sich tatsächlich ein gewisser Trainingseffekt selbst während der Expedition erzielen. Und während der meisten Tage braucht es nur das Mindeste an Fokus, um auf Kurs zu bleiben, sodass man den Kopf weitgehend frei hat.
Gab es etwas, bei dem du in der Antarktis von deinen Bergerfahrungen im Himalaya und Karakorum profitieren konntest?
Vor allem im Umgang mit Kälte und Wind habe ich von meinen Bergerfahrungen profitiert: Ich wusste so bereits, welches meine Schwachpunkte sind, auf die ich besonders achten muss und wie ich dafür sorge, dass keine Kleidungs- oder Ausrüstungsgegenstände Schaden nehmen oder gar im Sturm wegfliegen. Auch das Erkennen und Passieren von Gletscherspalten, das ich zuerst in der Bergwelt erlernt habe, waren wichtig für meine Tour.
Und umgekehrt: Was kannst du von deinen Erfahrungen im ewigen Eis für mögliche neue Bergabenteuer mitnehmen?
Für die Polarexpedition habe ich mich viel intensiver mit dem Thema Gewichtsoptimierung auseinandergesetzt und damit, wie ich es schaffe, nichts ausser Fussabdrücken zu hinterlassen. So haben gezieltes Planen und sparendes Verpacken es mir leicht gemacht, all meinen Müll mitzunehmen, und im Verlauf der Expedition haben sich folglich nur vergleichsweise wenige Gramm Müll angesammelt.
Auf den Bergen schleppen die meisten viel mehr Verpackungsmaterial und somit auch Müll mit sich, der leider viel zu oft achtlos in die Natur geworfen wird. Dabei würde jeder davon profitieren, direkt weniger Verpackungsmaterial überhaupt hochzutragen, und es würde dann hoffentlich leichter fallen, den wenigen Müll später auch wieder mit herunterzunehmen.
Ein Beispiel: Die hitzebeständige Plastikverpackung einer Fertigmahlzeit wiegt in der Regel über 30 Gramm, meine Schüssel zum Essen wiegt 125 Gramm, eine dünne (idealerweise wiederverwendbare) Tüte wiegt weniger als ein Gramm. Somit lohnt es sich schon ab mehr als vier Hauptmahlzeiten, die Fertiggerichte abzufüllen und aus der Schüssel zu essen. Und es fällt leichter, eine trockene, ein Gramm schwere Tüte wieder einzustecken, als die mit feuchten Essensresten verklebte 30 Gramm schwere Originalverpackung.
Deine Expedition stand unter dem Motto „Not bad for a girl“ – eigentlich ein Chauvi-Spruch. Hast du das Gefühl, dass Frauen im Abenteuer-Sektor immer noch eher belächelt werden statt ebenbürtig wertgeschätzt?
Pauschal ist eine solche Frage sicher nie ganz richtig und gerecht zu beantworten. Tatsächlich habe ich durchaus die Erfahrung gemacht, dass man Männern eher zutraut, erfolgreiche Expeditionen durchzuführen. Gerade beim Everest wurde mir dies oft nicht nur indirekt, sondern auch direkt kommuniziert. Wenn man es als Frau dann doch schafft, kommen gerne Reaktionen wie „Ihr wurde bestimmt viel mehr durch Sherpas oder andere geholfen“, „Das Ziel ist sicher nicht mehr so schwierig zu erreichen, wie man das früher dachte“ oder „Sie hatte halt einfach Glück“. Und wenn all das nichts hilft, vermutet manch Fremder, dass man vielleicht besonders burschikos oder gar eine Walküre sein müsse – um dann allerdings beim ersten persönlichen Treffen überrascht zu werden (so im O-Ton mehrfach erlebt).
Gleichzeitig erlebe ich, dass mit zunehmender Expeditionserfahrung die vorurteilsbehafteten Reaktionen abnehmen. Beachtenswert fand ich in diesem Kontext die Anmerkung eines österreichischen Bergsteigers am K2: Er finde, es seien gerade die Frauen im Basislager, denen er die höchsten Erfolgschancen zuspreche. Denn sie hätten schon auf dem Weg dorthin viel mehr Willensstärke und Beharrlichkeit entgegen allen Stereotypen und Vorurteilen zeigen müssen, gegen die man sich schliesslich am besten mit absoluter Zielorientierung, guter Vorbereitung und dem notwendigen Durchhaltevermögen rüstet – und die man dann mit einer erfolgreichen Expeditionsdurchführung widerlegt.
Zuletzt gibt es auch diejenigen, die einem einfach nur ebenbürtig oder gar mehr Respekt zollen. Oder auch jene, die Frauen oder Töchter in ihrem Leben haben, die selbst Klischees trotzen oder für die sie sich wünschen, dass sie unvoreingenommen von solchen Klischees aufwachsen. Auf letztere zu treffen, freut mich immer besonders. Denn sie sind diejenigen, die unsere Gesellschaft nachhaltig positiv verändern! Ich hoffe, dass ich mit der „Intersport“-Kampagne (Anja wurde von dem Sportfachhändler finanziell unterstützt) ebenfalls einen kleinen Beitrag dazu leisten konnte.