Viele Berichterstatter, mich eingeschlossen, hatten ihn einfach nicht auf dem Everest-Radar. Dabei versuchte sich Rasmus Kragh in diesem Jahr bereits zum dritten Mal ohne Flaschensauerstoff am höchsten Berg der Erde. 2017 und 2018 hatte der dänische Profibergsteiger den Mount Everest über die tibetische Nordseite des Bergs besteigen wollen und war jeweils auf einer Höhe von 8600 Metern umgekehrt. Im vergangenen Frühjahr stieg der 30-Jährige über die nepalesische Südseite auf und war erfolgreich. Am 23. Mai erreichte Kragh den höchsten Punkt auf 8850 Metern: als erster Däne ohne Atemmaske. Rasmus kommt aus der Stadt Aarhus an der Ostküste Dänemarks. Zwei Monate nach seinem Everest-Abenteuer hat er meine Fragen beantwortet.
Rasmus, du hast am 23. Mai den Gipfel des Mount Everest erreicht – nach eigenen Angaben ohne Flaschensauerstoff. Hast du weder beim Aufstieg noch beim Abstieg eine Atemmaske benutzt?
Ohne Einsatz von zusätzlichem Sauerstoff bedeutet komplett ohne. Ich habe nicht mal ein „Schlückchen“ aus der Flasche genommen, weder beim Aufstieg auf den Mount Everest noch beim Abstieg.
Hattest du denn für einen möglichen Notfall Flaschensauerstoff dabei?
Ich hatte keinen Notsauerstoff mit. 2017 und 2018 bin ich zweimal auf der Nordseite des Everest wegen schlechten Wetters umgekehrt. Und ich würde es wieder tun statt Flaschensauerstoff zu verwenden. Meiner Meinung nach wiegt man sich in der Illusion von Sicherheit, wenn man sich die Möglichkeit offen hält, zu zusätzlichem Sauerstoff zu greifen. Am Ende könntest du versucht sein, zu nahe an oder sogar über dein Limit hinaus zu gehen, wenn du weißt, dass du notfalls zur Flasche greifen kannst. Da behalte ich lieber die Kontrolle ohne Flasche. Und wenn das bedeutet, dass ich umkehren muss, mache ich das auch. Hypothetisch gesehen. Das ist mein Prinzip.
Wie sah deine Taktik aus, einen Stau auf dem Gipfelgrat wie am 22. Mai zu vermeiden?
Bereits von Lager 1 aus konnte ich sehen, wie sich die gewaltigen Menschenmassen in Richtung Lager 2 bewegten. Sie alle würden den 21., 22. oder 23. als Gipfeltage wählen. Ich beschloss, nach Lager 2 aufzusteigen. Dort hatte ich dann die Wahl, ohne Ruhetag weiterzuklettern und am 22. Mai den Gipfel zu erreichen oder einen Ruhetag einzulegen und den 23. anzupeilen. Ich hoffte, dass sich die Massen für den 21. als Gipfeltag entscheiden würden. Dann hätte ich am 22. Mai zum höchsten Punkt aufsteigen können und hätte immer noch einen Tag Puffer in dem vorhergesagten Schönwetterfenster gehabt. Als ich dann in Lager 2 eintraf, wurde mir jedoch klar, dass die Mehrheit am 22. Mai aufsteigen würde. Ich sah, wie sie sich alle die Lhotse-Flanke hinauf nach Lager 3 bewegten. Eine Riesen-Menschenschlange!
Also beschloss ich einfach, sie gehen zu lassen. Mir war klar, dass es weiter oben unweigerlich Probleme geben würde und Staus. Die größten Bedenken für meinen Gipfelvorstoß ohne Flaschensauerstoff auf der Südseite des Everest hatte ich wegen der Risiken, die von anderen Menschen am Berg ausgingen. Und hier wurden sie mir schon frühzeitig vor Augen geführt. Ich wusste: Wenn ich am Ende auf dem Everest-Gipfelgrat im Stau stehen würde, hätte ich nur die Wahl umzudrehen oder das Risiko einzugehen zu sterben.
Ich versuchte also, den großen Menschenmassen aus dem Weg zu gehen. Ein weiterer wichtiger Teil meiner Taktik bestand darin, früher vom Südsattel aus Richtung Gipfel zu starten als normalerweise üblich. Ich verließ Lager 4 am 22. Mai gegen 19.30 Uhr. Ich hätte noch früher aufbrechen können, aber ich wusste, dass ich mich auf den letzten Teil meiner Taktik verlassen konnte: Schnell klettern und trotzdem die Kontrolle behalten! Ich stand um 6.50 Uhr auf dem Gipfel, ich brauchte etwa 11 Stunden und 20 Minuten bis oben. Um 11.30 Uhr war ich wieder zurück am Südsattel. Ich benötigte also für Auf- und Abstieg zusammen 16 Stunden.
Es war dein dritter Versuch am Everest ohne Flaschensauerstoff. 2017 und 2018 hattest du auf 8600 Metern umgedreht. Was hast du diesmal anders gemacht?
Nun, zunächst einmal hatte ich an meinem Gipfeltag, dem 23. Mai dieses Jahres, gutes Wetter. Das war 2017 und 2018 nicht so. Außerdem habe ich mein Konzept nach und nach optimiert und professionalisiert. In diesem Jahr konnte ich mich voll und ganz meinem Ziel widmen, als hauptberuflicher Profisportler. Ich konnte zweimal täglich trainieren, um mich auf den Everest vorzubereiten. Durch die Unterstützung von Sponsoren konnte ich nicht nur meine Expedition bezahlen, sondern auch meine normalen Lebenshaltungskosten decken. Zudem hatte ich ein sehr engagiertes und professionelles Team um mich herum. Es übernahm die gesamte Medienarbeit und auch die Live-Berichterstattung auf den Sozialen Medien und auf meiner Internetseite. Ich hatte sogar einen Begleiter mit im Basislager, der mir den Rücken frei hielt, sodass ich mich voll auf meine Mission konzentrieren konnte: den Berg zu besteigen. Er ist Sportwissenschaftler und arbeitet als Trainer. Er hat einen tollen Job gemacht und mich als Athlet wirklich weitergebracht.
Meine Erfahrungen aus den beiden vorangegangenen Versuchen haben ebenfalls eine sehr wichtige Rolle gespielt. Ich wusste, was mich erwartet. Ich wusste, wie ich mich in den extremen Höhenlagen verhalten und wie ich mich vorher akklimatisieren musste. Und schließlich war ich körperlich besser vorbereitet als jemals zuvor.
Wie hast du dich denn auf den Aufstieg ohne Sauerstoffflaschen vorbereitet?
Um die Antwort kurz zu halten: Ich habe so viel an Training und Einsatz in dieses Projekt investiert wie Athleten, die sich auf Olympische Spiele vorbereiten. Ich habe mich auf Ausdauertraining konzentriert, mit den Schwerpunkten Laufen und Radfahren (als Teenager war ich ein Spitzenläufer), dazu noch eine Menge gezieltes und intensives Krafttraining. Meistens habe ich zweimal täglich trainiert und wie ein Profisportler gelebt. Seit zwei Jahren arbeite ich mit einem persönlichen Trainer zusammen. Gemeinsam haben wir ein spezifisches Trainingsprogramm entwickelt, um den Everest ohne Flaschensauerstoff zu besteigen. In diesem Jahr habe ich dazu noch einen Mentaltrainer in mein Team geholt, der mich in Sachen Fokussierung und innerer Haltung vorangebracht hat. Außerdem hatte ich auch im Basislager ein leichtes Trainingsprogramm – um stark zu bleiben und nicht zu viel Substanz zu verlieren.
Es ist viel darüber diskutiert worden, ob man die Anzahl der Menschen am Everest begrenzen sollte. Wie stehst du dazu?
Das ist eine knifflige Frage. Denn die Freiheit in den Bergen gilt für alle. Die Freiheit, sein eigenes Ziel zu wählen und es in dem Stil zu verfolgen, der einen am meisten motiviert. Wenn man die Anzahl der Bergsteiger begrenzt, wird diese Freiheit eingeschränkt.
Ich befürworte stattdessen ein System, das sicherstellt, dass nur der ein Permit für den Everest erhält, der ein gewisses Maß an Erfahrung vorweisen kann. Wenn man sich im Berufsleben um eine Stelle bewirbt, muss man schließlich auch ein Mindestmaß an Ausbildung und/oder Erfahrung haben, um als ernsthafter Kandidat in Frage zu kommen.
Ich würde vorschlagen, Everest-Permits nur noch an Leute auszugeben, die schon einen Siebentausender und einen Achttausender bestiegen haben. Dann würden sich die Zahlen automatisch verringern. Auf diesem Weg würde man auch Werbung für andere Gipfel des Himalaya und Nepals machen. Ein solches System hätte zudem den Vorteil, dass die nepalesische Regierung kein Geld verlieren würde, denn die niedrigeren Einnahmen am Everest würden durch die höheren an anderen Gipfeln kompensiert.
Mit welchen Gefühlen denkst du an die Zeit am Everest zurück?
Ich habe die letzten vier Jahre meines Lebens dem Mount Everest gewidmet, und der Mission, ihn ohne den Einsatz von Flaschensauerstoff zu besteigen, ohne dabei die Kontrolle zu verlieren. Es war wirklich eine fantastische Reise. Aber auch eine echte Achterbahnfahrt der Gefühle.
Diese Zeit hat mich als Mensch verändert und mir eine neue Lebensperspektive geschenkt. Es wird einige Zeit dauern, alle Erfahrungen zu verarbeiten. Ehrlich gesagt, habe ich damit gerade erst begonnen. Der Everest und meine Reise dorthin in drei aufeinander folgenden Saisons werden für immer ein Teil von mir sein.
Aber ich habe auch das Gefühl, dass ich eine Pause vom Berg brauche. Ich muss zu anderen Zielen aufbrechen, denn dieser Ort hat sich in gewisser Weise zu sehr in mir breit gemacht. Es fühlt sich an, als wäre mir der Everest ein wenig zu vertraut geworden, mit all seiner Schönheit, aber auch mit den vielen Menschen dort und der zunehmenden Kommerzialisierung. Jetzt ist es an der Zeit, mein Buch zu schreiben, viele Vorträge zu halten und mir als Athlet neue Ziele zu setzen.