100 Jahre nach dem Verschwinden am Mount Everest: Menschliche Überreste von Andrew Irvine entdeckt

Andrew Irvine
Andrew Irvine

„Ich hob die Socke hoch, und da war ein rotes Etikett mit der Aufschrift A.C. IRVINE aufgenäht. Wir sind alle buchstäblich im Kreis gelaufen und haben ‚Heilige Scheiße‘ gerufen.“ So beschreibt der US-Kletterer und Filmemacher Jimmy Chin gegenüber dem Magazin „National Geographic“ den Augenblick, als er und sein Team auf dem Zentralen Rongbuk-Gletscher zu Füßen der Nordwand des Mount Everest menschliche Überreste von Andrew Irvine entdeckten.

Sie fanden einen alten Schuh mit einem Fuß darin und die besagte Socke, die bezeugte, wer sie einst getragen hatte. Anfang Juni 1924 waren die britischen Bergsteiger George Herbert Leigh Mallory, damals 37 Jahre alt, und Andrew Comyn Irvine, 22 Jahre alt, am damals noch unbestiegenen Mount Everest zu einem Gipfelversuch aufgebrochen. Expeditionskollege Noell Odell hatte sie nach eigenen Angaben zuletzt am 8. Juni am Nordostgrat erblickt, danach verlor sich ihre Spur. Bis heute ist das Rätsel ungelöst, wie nahe sie dem höchsten Punkt der Erde auf 8.849 Metern kamen.

Vor 25 Jahren wurde Mallorys Leiche entdeckt

1933 fanden Bergsteiger einer britischen Everest-Expedition auf der tibetischen Nordseite des Bergs auf einer Höhe von knapp 8500 Metern den Eispickel Irvines. 1991 tauchte etwa auf gleicher Höhe eine Sauerstoffflasche auf, die der Expedition von 1924 zugeschrieben wurde. Am 1. Mai 1999 fand der US-Bergsteiger Conrad Anker, Mitglied einer internationalen Suchexpedition, auf 8159 Metern, im Schutt eingefroren, zweifelsfrei die Leiche Mallorys.

Everest-Nordwand, davor der Zentrale Rongbuk-Gletscher
Everest-Nordwand, davor der Zentrale Rongbuk-Gletscher (2005)

Auf einem Etikett am Jackenkragen stand Georges Name, in der Tasche steckten Briefe, die an ihn adressiert waren. Mallorys Bein war gebrochen, schwere Kopfverletzungen waren zu sehen – offensichtlich Folgen eines Absturzes. Irvine blieb vermisst. Auch eine kleine Kodak-Kamera, mit der die beiden Bergsteiger ihren Aufstieg dokumentieren wollten, wurde damals nicht gefunden.

Schuh steckte im Eis

Oscar-Gewinner Jimmy Chin und sein Team waren in diesem Herbst auf der tibetischen Nordseite des Everest, um eine geplante Skiabfahrt von Jim Morrison durch das in der Nordwand gelegene Hornbein-Couloir zu filmen. Die schwierigen Verhältnisse am Berg stoppten das Projekt.

Chin und Co. entdeckten auf dem Gletscher nahe der Wand zunächst eine alte Sauerstoffflasche mit dem Aufdruck 1933 und mutmaßten, dass sie möglicherweise weiter gefallen und gerollt sei als ein abstürzender Mensch. Deshalb begannen sie, das Gelände systematisch abzusuchen – und fanden schließlich Irvines Schuh, der aus dem Eis ragte. „Ich glaube, er war buchstäblich eine Woche, bevor wir ihn fanden, herausgeschmolzen“, sagt Chin.

Hemmleb: „Noch keine Lösung des Rätsels“

Jochen Hemmleb
Jochen Hemmleb

Der deutsche Alpinhistoriker und Bergsteiger Jochen Hemmleb war 1999 vor Ort am Everest und durch seine jahrelangen Recherchen maßgeblich daran beteiligt, dass Mallorys Leiche entdeckt wurde. Dass nun der Schuh Irvines aufgetaucht ist, bezeichnet der 53-Jährige als „bahnbrechenden Fund“, warnt jedoch, daraus voreilige Schlüsse zu ziehen. „Eine Lösung des Rätsels sehe ich bisher noch nicht.“

So sei nach wie vor offen, ob nicht bereits vor 49 Jahren eine chinesische Expedition die vermisste Kodak-Kamera – die übrigens nicht Irvine, sondern Mallory bei sich getragen habe – gefunden und dies verschwiegen habe, so Jochen: „Die Chinesen haben Mallory mit ziemlicher Sicherheit 1975 gefunden, nicht Irvine, und könnten die Kamera, die Mallory bei sich trug, geborgen haben (auch dies ist fraglich, aber eine Möglichkeit).“

Nach wie vor ungeklärt sei zudem, „ob Mallory und Irvine den Gipfel erreichten (die meisten halten dies für unwahrscheinlich) oder was mit ihnen geschah“. Es gebe mehrere Möglichkeiten, wie Irvines Leiche auf den Zentralen Rongbuk-Gletscher gelangt sei, meint Hemmleb: „Er könnte von irgendwo auf dem Nordostgrat heruntergefallen sein. Er könnte von einer Lawine von irgendwo in der Nordwand hinuntergefegt worden sein. Oder sein Körper wurde vom Berg geworfen (so unangenehm dieser Gedanke auch ist). Mehr Informationen über die genaue Lage des Fundortes und die Bewegung des Zentralen Rongbuk-Gletschers könnten weitere Anhaltspunkte liefern.“

Jimmy Chin möchte nicht näher darauf eingehen, wo genau die Überreste gefunden wurden – nach eigenen Worten, um nicht Trophäenjäger zu ermutigen, sich auf den Weg zum Fuße der Everest-Nordwand zu machen. Er sei zuversichtlich, dass sich weitere Artefakte und vielleicht sogar die Kamera in der Nähe befänden, so Chin gegenüber National Geographic: „Das schränkt das Suchgebiet sicherlich ein.“

Update 15. Oktober: Für den US-Bergsteiger Jake Norton, wie Hemmleb Mitglied der Suchexpedition von 1999, ist es das Wichtigste, „dass die Familie Irvine ein Jahrhundert später endlich auf eine gewisse Weise mit dem Schicksal ihres Vorfahren abschließen kann“. Jake vermutet aufgrund des Fundorts von Irvines Schuh verglichen mit dem von Mallorys Körper 1999, „dass die beiden, immer noch aneinander gefesselt, die Nordwand hinunter (…) gestürzt sind“, bis das Seil gerissen sei „und Mallory dort zurückblieb, wo wir ihn am 1. Mai 1999 fanden, und Irvine hinunter auf den Gletscher fiel“.

3 Antworten auf „100 Jahre nach dem Verschwinden am Mount Everest: Menschliche Überreste von Andrew Irvine entdeckt“

  1. Eine kurze Frage zum Update: Muesste dann Irvines Koerper, wenn er bereits seit 1924 am Wandfuss liegt, nicht weiter unten liegen, irgendwo im Bereich der Gletscherzunge? Oder tendiert die Fliessgeschwindigkeit des Gletschers direkt unter der Nordwand gegen Null?

    1. Eine interessante Frage, die ich leider nicht befriedigend beantworten kann. Ich habe eine Untersuchung chinesischer Wissenschaftler zum Östlichen Rongbuk-Gletscher gefunden. Die ermittelten in einer Höhe von rund 5500 Metern eine Fließgeschwindigkeit von mehreren Metern pro Jahr. In einer britischen Studie der Gletscher um den Everest auf der Basis von Satellitenaufnahmen (https://www.cambridge.org/core/journals/journal-of-glaciology/article/quantification-of-everest-region-glacier-velocities-between-1992-and-2002-using-satellite-radar-interferometry-and-feature-tracking/8D7BE6EFAB1B9C388174A0B2CC6C9D9A) heißt es übersetzt: „Die Ergebnisse zeigen, dass nur einer der untersuchten Gletscher, der Kangshung Glacier, auf seiner gesamten Oberfläche dynamisch ist, wobei in hochgelegenen Gebieten Fließgeschwindigkeiten von mehr als 40 m a-1 gemessen wurden. Zwölf weitere Gletscher zeigen Anzeichen von Fließbewegungen, sind aber im Allgemeinen durch lange, stagnierende Zungen gekennzeichnet, was auf einen weit verbreiteten Schwund und einen in situ-Zerfall hindeutet.“

  2. Vielen Dank fuer die hochintéressante Antwort, Stefan ! So schnell werden wir nicht wissen, was da oben 1924 passiert ist. Aber wer weiss: Ueberraschungen sind immer moeglich….

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