Ich muss in diesen Tagen häufig an Luis Stitzinger denken. Jetzt, da seine Witwe Alix von Melle seine Asche am 7246 Meter hohen Putha Hiunchuli im Westen Nepals verteilt hat. Dort, wo ich mich 2011 erstmals an einem Siebentausender versucht habe – vergeblich, ich musste auf 7150 Metern umdrehen. Alix‘ Expeditionsleiter am Putha Hiunchuli war jetzt – wie bei mir vor 13 Jahren – der Österreicher Herbert Wolf. Und mit Eva-Maria Ramsebner, ebenfalls aus Österreich, war auch jemand aus dem Team mit dabei, mit dem ich 2014 im Westen Chinas die Erstbesteigung des 7129 Meter hohen Kokodak Dome feiern durfte. Expeditionsleiter damals: Luis Stitzinger. So viele Schnittstellen – kein Wunder, dass ich mich in diesen Tagen so oft an ihn erinnere.
Luis „wohnte“ über ein Jahr bei Billi Bierling
Luis Stitzinger war Ende Mai 2023 beim Abstieg vom 8586 Meter hohen Kangchendzönga im Osten Nepals ums Leben gekommen. Der dritthöchste Berg der Erde war der neunte Achttausender, den er ohne Flaschensauerstoff bestieg. Der 54-Jährige hatte mit Skiern abfahren wollen. Wenige Tage später fand ihn ein Sherpa-Suchtrupp auf 8400 Metern, tot im Schnee liegend. Die Sherpas brachten Luis‘ Körper vom Berg – wie es inzwischen in Nepal gesetzlich vorgeschrieben ist. In Kathmandu wurde er eingeäschert, seine Frau Alix war bei der Zeremonie.
„Natürlich haben wir immer mal wieder darüber gesprochen: Was ist wenn?“, erzählt mir Alix. „Daher wusste ich, dass es Luis‘ Wunsch war, in den Bergen zu bleiben. Diesen Wunsch wollte ich ihm erfüllen.“ Unmittelbar nach dem Unglück habe ihr dazu die Kraft und die Zeit gefehlt, sagt die 53-Jährige. Die Himalaya-Chronistin und Bergsteigerin Billi Bierling habe ihr geholfen. „Billi sagte: ‚Der Luis kann auch bei mir wohnen‘. Sie richtete in ihrer Wohnung eine sehr schöne Ecke ein – mit der Asche und einigen Bildern von Luis, die ich ihr gab. Damit war für mich erst einmal der Druck raus.“
„Es hat sich gefügt“
Knapp anderthalb Jahre später fühlte sich Alix bereit, mit Luis in Nepal auf seine allerletzte irdische Reise zu gehen. Ihre Wahl fiel auf den Putha Hiunchuli, auch Dhaulagiri VII genannt. „Luis hatte es dort sehr gut gefallen, weil es ein so entlegener und einsamer Berg ist“, erinnert sich Alix. Ihr Mann hatte den bergtechnisch eher leichten Siebentausender im Herbst 2021 bestiegen – mit einem britischen Kunden, um diesen auf einen letztlich erfolgreichen Versuch im Frühjahr 2022 am Mount Everest vorzubereiten.
Lukas Furtenbach, Chef des österreichischen Anbieters Furtenbach Adventures, informierte Alix über die diesjährige Expedition zum Putha Hiunchuli. Expeditionsleiter Herbert Wolf und Luis hatten als Bergführer für Furtenbach am Everest zusammengearbeitet, ebenso Kunga Sherpa, der jetzt ebenfalls mit von der Partie war. Dazu noch Eva-Maria aus Luis‘ Kokodak-Dome-Team. „Ich habe gedacht, das passt. Es hat sich auch von den Menschen her so gefügt“, sagt Alix. „Ich brauche ein Umfeld, das mich trägt.“
Neue Angst vor Höhenkrankheit
Denn der erfolgreichen deutschen Höhenbergsteigerin – sie bestieg sieben Achttausender ohne Flaschensauerstoff, sechs davon mit ihrem Mann Luis – war klar, dass diese Expedition ihre emotional schwerste würde. Schon das mehrtägige Trekking zu dem entlegenen Berg habe sie gefühlsmäßig sehr herausgefordert. „Da läufst du stundenlang vor dich hin und denkst nach“, sagt Alix. „Und ich habe gespürt: Luis fehlt nicht nur jeden Tag, sondern bei jedem Schritt.“
Bei der traditionellen Puja-Zeremonie im Basislager sei Luis‘ Asche noch einmal geweiht worden. Sie habe dann bereits einen kleinen Teil davon in die Luft gebracht, berichtet Alix. „Damit war auch der Druck ein bisschen raus, dass es mit dem Gipfel klappen musste. Ich wusste ja auch nicht, ob ich hoch kommen würde.“ Sie habe „totale Panik geschoben“, am Putha Hiunchuli höhenkrank zu werden, räumt die Bergsteigerin ein. „Damit hatte ich überhaupt nicht gerechnet. Aber eigentlich ist es normal, weil Luis an der Höhenkrankheit gestorben ist. Das ist jetzt quasi meine Achillesferse.“
Schwierige Verhältnisse am Berg
Der Aufstieg zum höchsten Punkt war dann alles andere als ein Selbstläufer. Es sei am Gipfeltag eisig kalt gewesen, erzählt Alix: „Dazu waren die Schneeverhältnisse übel: Bruchharsch, darunter Grieselschnee. 1000 Höhenmeter vom letzten Lager bis zum Gipfel, jeder Schritt war eine Quälerei. Aber irgendwie haben wir uns hochgekämpft. Wegen meiner Asche-Mission hatte ich Zug zum Gipfel.“
Die starke körperliche Belastung habe ihr dabei geholfen, die seelische zu ertragen, glaubt Alix. „Oben war ich einfach nur glücklich, dass es trotz der schwierigen Verhältnisse geklappt hat. Und ich dachte: ‚Oh, wie schön!‘ Kein Wind, die Sicht perfekt. Dann habe ich die Asche in die Luft gebracht. Eva-Maria hat Texte ihres Bruders vorgelesen, der Priester ist. Ich habe wirklich gedacht: ‚Luis hätte sich das genauso gewünscht.‘ Und ich habe mich gleichzeitig gefreut, dass ich wieder einen hohen Berg geschafft habe.“
Rucksack ist leichter geworden
Ich frage sie, ob sie das Gefühl hatte, das Luis in diesem Moment anwesend war. „Ich konnte am Gipfel gar nicht viel denken. Ich war wie auf Automatik-Modus, wie ferngesteuert“, antwortet Alix. „Ich habe aber während der ganzen Expedition gespürt, dass Luis ganz nah dabei war.“ Es sei ihr selbst in Momenten klar geworden, in denen sie nicht unbedingt damit gerechnet habe. „Als wir drei Tage nach dem Gipfelerfolg das Basislager verließen, dachte ich plötzlich: ‚Ich kann hier nicht weggehen. Ich kann Luis nicht allein lassen.‘ Ich habe dann die Gruppe vorlaufen lassen und mir Zeit genommen. Solche Momente sind heftig.“
Es erleichtert Alix, dass Luis‘ Asche nun einen Platz gefunden hat, der seiner Persönlichkeit gerecht wird. „Ich habe das Gefühl, dass der Rucksack, den ich mit mir herumtrage, ein Stück leichter geworden ist“, sagt sie. Dennoch: „Der Trauerweg ist definitiv nicht zu Ende, die Trauer wird auch in zehn oder 15 Jahren nicht vorbei sein. Sie wird Teil meines Lebens sein. Aber es war ein ganz wichtiger Schritt, der mir gutgetan hat.“ Und ein Funke, der ihre Leidenschaft für die hohen Berge neu entzündet hat.
Feuer ist wieder da
„Ich konnte vorher gar nicht einschätzen, ob es mir ohne Luis überhaupt noch Freude macht. Ich habe das Expeditionsleben mit ihm geliebt. Wir waren so ein eingespieltes Team“, sagt Alix von Melle. „Und jetzt frage ich mich plötzlich wieder: ‚Was mache ich nächsten Herbst?‘ Ich habe wieder Lust, und ich bin mir sicher, dass sich ein Ziel finden wird. Ob es ein Sechs- oder Siebentausender wird oder ob ich nochmal einen Achttausender probiere, das weiß ich noch nicht. Aber das Feuer ist wieder da.“
Alix ist schon sehr außergewöhnlich! Respekt!!
Danke Dieter! Jetzt bringst Du mich zum Lachen und das tut bei aller Trauer auch gut.
Ja ich bin wohl etwas außergewöhnlich….stelle mir gerade beim Lesen Deines Kommentars vor, ich würde meine Geschichte bei einer anderen Frau lesen, dann würde ich wohl auch denken „Die ist ja mal speziell….“.
Viele Grüße Alix
Eine SEHR schöne und berührende Geschichte..!! 🩵❣️🩵
Ich war selbst einmal auf 7000 Meter, daher kann ich deine Erlebnisse „ein wenig“ nachvollziehen. Aber ganz kann das natürlich NUR der betroffene Mensch selbst. ALLES LIEBE, Monika 🥰