Anurag Maloo, der Überlebende von der Annapurna: „Keinen Berg auf die leichte Schulter nehmen“

Anurag Maloo
Anurag Maloo

„Wir haben im vergangenen Jahr am Manaslu und in diesem Jahr an der Shishapangma gesehen, dass selbst der einfachste Berg zum schwierigsten werden kann, je nach Wetterlage oder anderen Umständen“, sagt mir Anurag Maloo. „Bergsteigen ist kein Wettrennen, es ist deine eigene individuelle Reise zu den Bergen, auf die du steigst. Du solltest dich nicht mit anderen vergleichen, egal ob es um die 14 Achttausender oder die Seven Summits oder was auch immer geht. Die Leute sollten nicht das Gefühl haben, dass sie in einem Wettbewerb stehen.“

Der indische Bergsteiger bezog sich mit seiner Äußerung zum einen auf die Lawinenunglücke im Herbst 2022 am Achttausender Manaslu im Westen Nepals , bei denen die Nepalesen Anup Rai und Dawa Chhiring Sherpa sowie die amerikanische Skibergsteigerin Hilaree Nelson ums Leben gekommen waren.

Zum anderen aber auch auf die Lawinenabgänge vom vergangenen Samstag an der Shishapangma in Tibet, bei denen die US-Amerikanerin Anna Gutu und ihr nepalesischer Bergführer Mingmar Sherpa sowie Gina Marie Rzucidlo, ebenfalls aus den USA, und ihr nepalesischer Bergführers Tenjen „Lama“ Sherpa ihre Leben verloren hatten. Andere vor Ort – wie die pakistanische Bergsteigerin Naila Kiani – hatten später von einem regelrechten Wettlauf der beiden US-Amerikanerinnen mit harten Bandagen berichtet. Beide hätten unbedingt die erste Frau aus den USA auf allen 14 Achttausendern sein wollen.

Sechste Operation

Anurag Maloo (vor seinem Unglück an der Annapurna)
Anurag vor seinem Unglück an der Annapurna

Anurag Maloo selbst hatte im vergangenen Frühjahr am Achttausender Annapurna I im Westen Nepals einen Sturz in eine Gletscherspalte auf rund 5800 Meter Höhen knapp überlebt. Drei Tage nach seinem Verschwinden war er aus der Spalte gerettet worden. Sein Leben hatte allerdings auch danach noch am seidenen Faden gehangen. Drei Wochen nach seiner Rettung war Anurag – immer noch in kritischem Zustand – von Kathmandu zur weiteren Behandlung in ein Krankenhaus der indischen Hauptstadt Neu Delhi geflogen worden.

Derzeit erholt sich Maloo von seiner inzwischen sechsten Operation, einer Hauttransplantation am Oberschenkel. Der Bergsteiger hatte sich in den Tagen in der Gletscherspalte schwere Erfrierungen zugezogen. Mehrere Fingerglieder mussten amputiert werden. „Ich lerne, damit umzugehen und meine Finger und Daumen zu mobilisieren, weil ich die Beweglichkeit meiner rechten Hand verloren habe“, schildert mir Anurag seinen aktuellen körperlichen Zustand. „Aber meine inneren Organe sind stabil. Mein Herz, meine Lunge, die Nieren, die Leber, das Gehirn – alles funktioniert gut.“ Er könne sich nicht beklagen, sondern sei „dankbar, dass ich lebe, wieder zurück bin und mich erhole“.

Zeitweilige Amnesie

Es sei „definitiv ein Wunder“, dass er seinen Sturz in die Gletscherspalte an der Annapurna und die folgenden drei Tage bis zur Rettung überlebt habe, sagt der 34-Jährige. Ich frage ihn, wie er sich dort in der kalten Einsamkeit gefühlt habe. Er wisse es nicht, antwortet Anurag: „Das Einzige, woran ich mich erinnere, ist der Sturz in die Gletscherspalte. Das war’s. An die drei Tage in der Spalte und die ersten sieben oder acht Tage des Krankenhausaufenthalts kann ich mich nicht mehr erinnern.“

Inzwischen hat der indische Bergsteiger auch mit einigen seiner Retter gesprochen, etwa mit den beiden Polen Adam Bielecki und Mariusz Hatala sowie mit Chhang Dawa Sherpa vom Expeditionsveranstalter Seven Summit Treks, der die Suche und Bergung durch das nepalesisch-polnische Rettungsteam koordiniert hatte. Sie hätten ihn aus erster Hand über die Schwierigkeiten und die Details der Rettung informiert, sagt Anurag. „Ich bin so dankbar und fühle mich gesegnet.“

Demut vor dem Berg

Anurag Maloo im Kreise seiner Lieben an seinem 35. Geburtstag im Juni
Anurag Maloo (3.v.r.) – im Kreise seiner Lieben an seinem 35. Geburtstag im Juni

Hat das Unglück an der Annapurna seine Sicht auf das Leben verändert? „Was mich der Vorfall gelehrt hat: Lebe wirklich jeden Moment, den du hast“, sagt Maloo. „Glücklich zu sein im Hier und Jetzt ist das Allerwichtigste. Deshalb versuche ich auch in der Genesungsphase, immer positiv zu bleiben und diese positive Denkweise beizubehalten.“

Und seine Sicht auf das Bergsteigen? Er habe gelernt, dass jeder Berg anders sei und seine eigenen Herausforderungen habe, antwortet Anurag: „Du darfst keinen Berg auf die leichte Schulter nehmen, einfach nur als spaßige Gelegenheit, ihn zu besteigen.“

Vielmehr seien Respekt und Demut vor dem Berg nötig, so der indische Bergsteiger. „Ich bin sehr dankbar, dass die Annapurna mich beschützt hat, sich während dieser drei Tage um mich gekümmert und mich zurückgeschickt hat“, sagt Anurag Maloo. „Und ich bin ihr dankbar dafür, dass ich erleben durfte, wie nahe Leben und Tod beieinander liegen.“

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