Seine Taktik ist voll aufgegangen. „Ich habe immer gesagt, ich brauche ein Jahr mit einem langen Schönwetterfenster“, sagt mir David Göttler, „damit all die anderen Expeditionen schon am Berg waren, bevor ich loslege.“ Wie gestern berichtet, hatte der 43 Jahre alte deutsche Profibergsteiger am Samstag den Gipfel des Mount Everest auf 8849 Metern erreicht: ohne Flaschensauerstoff – und ohne Sherpa-Unterstützung. Bis auf jene, dass auch Göttler die Fixseile nutzte, die ein Sherpa-Team für die kommerziellen Teams gelegt hatte, um die Normalroute zu sichern.
Nach zwei gescheiterten Versuchen in den Jahren 2019 und 2021 stand David nun auf dem höchsten Punkt der Erde. Es war sein sechster Achttausender-Gipfelerfolg ohne Flaschensauerstoff nach Gasherbrum II (2006), Broad Peak (2007), Dhaulagiri (2008), Lhotse (2009) und Makalu (2013). 2017 hatte Göttler mit dem Italiener Hervé Barmasse die Südwand der Shishapangma durchklettert – ehe sie ihren Aufstieg fünf Meter unter dem Gipfel wegen zu hoher Lawinengefahr gestoppt hatten.
An Tag zwei nach seinem Everest-Gipfelerfolg habe ich mit David gesprochen.
Erst einmal einen ganz herzlichen Glückwunsch zu deiner Everest-Besteigung ohne Atemmaske. Wie viele Etappen hatte dein Gipfelvorstoß?
Am ersten Tag bin ich vom Basislager bis nach Lager 3 (7200 Meter) aufgestiegen, am zweiten dann bis zum Südsattel (knapp 8000 Meter). Dort habe ich paar Stunden Rast gemacht und bin dann um 21.30 Uhr Ortszeit aufgebrochen. Bis zum Gipfel habe ich 12 Stunden und 20 Minuten gebraucht. Anschließend bin ich bis Lager 3 abgestiegen, habe dort noch eine Nacht verbracht und bin am 22. Mai wieder ins Basislager zurückgekehrt.
Wie waren die Verhältnisse während deines Aufstiegs?
Das Wetter war gigantisch gut, die Verhältnisse am Berg waren perfekt. Ich hatte ein Riesenglück. Lediglich unterhalb des Südgipfels war der Schnee ein bisschen grieselig, so dass ich in der Spur ein bisschen durchrutschte. Das war ein großer Unterschied zu den sonst üblichen harten Stufen.
Der Grat vom Südgipfel bis zum Hauptgipfel war in diesem Jahr relativ aper (schneefrei), wie mir andere Bergführer berichtet haben, die dort häufiger unterwegs sind. Da war ich froh, dass ich allein war. Vom Südgipfel (8749 Meter) bis zum Gipfel und wieder zurück zum Hillary-Step (8790 Meter) bin ich keinem anderen Menschen begegnet, dort war ich komplett allein. Das war ein Geschenk – im Vergleich zu 2019 (als David auf 8650 Metern umgedreht hatte, weil die Route zu voll war). Ich konnte es gar nicht glauben.
Das kam dir entgegen, weil du so deine Geschwindigkeit halten konntest.
Na ja, Geschwindigkeit ist relativ. Ich kam mir dort so langsam vor. Wenn ich mir jetzt die Videos anschaue, die ich mit meiner Selfie-Kamera aufgenommen habe, dann denke ich: Jetzt beweg dich doch mal, mache wenigstens einen Schritt! Aber nichts passiert. Nahe dem Gipfel haben Wissenschaftler der National-Geographic-Expedition in diesem Frühjahr eine Wetterstation aufgestellt. Als ich die Station gesehen habe, dachte ich: Jetzt bist du gleich da. Aber es kam mir dann noch so lang vor. Daran merkst du, wie sehr sich dort oben die Wahrnehmung verschiebt.
Wie hast du darüber hinaus die Herausforderung des Everest-Aufstiegs ohne Atemmaske erlebt?
Ich habe von meinen ersten beiden gescheiterten Versuchen gelernt. Es hat sich körperlich ganz gut angefühlt, auch geistig war ich sehr präsent. Ich war überrascht, wie aufmerksam ich noch war. Ich habe es auch schon anders erlebt, dass du dann dort oben geistig etwas neben der Spur bist. Das war diesmal nicht so. Das war ein unglaublich gutes Gefühl.
Was ging dir durch den Kopf, als du erst die früheren Umkehrpunkte und dann schließlich den Gipfel des Everest erreicht hast?
Bei jedem Punkt, den ich vorher noch nicht erreicht hatte, war mir bewusst, dass noch weitere Punkte vor mir liegen. Und ich habe mich gefragt: Schaffe ich es noch zurück? Gerade wenn es dann ein wenig rauf und runter ging, wie zwischen dem Südgipfel und dem Hauptgipfel. Ich habe wirklich ständig abgewogen, ob ich noch die nötige Kraft aufbringe, um sicher zurückzukehren. Das war nicht einfach.
Was nimmst du nun mit nach Hause vom höchsten Berg der Erde?
Es ist schwer, dies schon so kurz nach dem Gipfelerfolg in Worte zu fassen. Aber im Moment empfinde ich vor allem Demut und Dankbarkeit. Weil ich weiß, wie klein diese Marge ist, in der man sich dort bewegt. Es muss einfach alles zusammenpassen. Das Pendel hätte auch schnell wieder in die andere Richtung ausschlagen können. Und dieses Gefühl, ohne Gipfel nach Hause zu kommen, kenne ich gut.