Der Wunsch, den höchsten Berg der Erde zu besteigen, scheint gegen das Coronavirus immun zu sein. Das nepalesische Tourismusministerium verkündete, dass es bis zum vergangenen Freitag 394 ausländischen Bergsteigern Permits für den Mount Everest erteilt habe, 13 mehr als im Rekordjahr 2019.
Von idyllischer Everest-Einsamkeit kann also zumindest auf der Südseite des Bergs keine Rede sein. Mingma Sherpa, Chef des nepalesischen Expeditionsveranstalters Seven Summit Treks, sagte der chinesischen Nachrichtenagentur Xinhua, mehr als 2000 Bergsteiger, Bergführer, Climbing Sherpas, Köche, Küchenhelfer und anderes Personal hätten bereits das Basislager erreicht. Seven Summit Treks stellt mit 110 zahlenden Kunden einmal mehr die größte Gruppe am Everest.
Basislager-Leben in der Blase
In der vergangenen Woche war die erste Corona-Infektion im Basislager bekannt geworden. Mitarbeiter der Everest ER, der Krankenstation der Himalayan Rescue Association zu Füßen des Bergs, sprachen auf Facebook inzwischen von „ein paar“ bestätigten Fällen: „Einige Expeditionen haben ihren Mitgliedern verboten, andere Lager zu besuchen, um zu versuchen, alle in einer sicheren Blase zu halten. Auf dem Weg zwischen den einzelnen Camps werden Masken getragen (Denken Sie daran, dass das Atmen auf 5350 Metern schon ohne Maske anstrengend ist!). Die Camps sind abgesperrt und entsprechend ausgeschildert, um ungebetene Gäste fernzuhalten.“
Starker Anstieg der Infektionen
In Nepal verdichten sich inzwischen die Zeichen, dass die jüngste explosionsartige Ausbreitung des Coronavirus in Indien auch auf den Himalayastaat überschwappt. Die Infektionszahlen in Nepal sind in den vergangenen Tagen in die Höhe geschnellt. Den zweiten Tag in Folge registrierten die Behörden mehr als 3000 neue COVID-19-Fälle, etwa die Hälfte davon im Tal um die Hauptstadt Kathmandu. Etwa jeder vierte Corona-Test fiel positiv aus.
Das nepalesische Gesundheitsministerium befürchtet, dass die Zahl der täglichen Infektionen auf bis zu 11.000 steigen könnte. Bislang wurden in Nepal mehr als 300.000 COVID-19-Fälle verzeichnet, mehr als 3000 Menschen starben. Die Dunkelziffer dürfte allerdings angesichts mangelnder Testmöglichkeiten hoch sein. Die Regierung erkundigte sich bei den Lieferanten von Flaschensauerstoff, ob sie die Versorgung der Krankenhäuser sicherstelle könne.
Moralisch verantwortbar?
Erste Kliniken hatten bereits wegen Engpässen an Flaschensauerstoff Alarm geschlagen. Vor diesem Hintergrund kommt es nicht gerade gut, dass im Everest-Basislager mehrere tausend Flaschen für Bergsteiger bereitliegen.
Expeditionsveranstalter rechnen für ihre Kunden, die mit Atemmaske aufsteigen, etwa acht bis zehn Flaschen pro Bergsteiger, dazu pro Climbing Sherpa weitere drei bis vier Flaschen. Legt man diese Kalkulation zugrunde, wäre man in diesem Frühjahr schnell bei über 5000 Flaschen. Das deckt zwar wahrscheinlich nicht einmal den Bedarf der Krankenhäuser in Kathmandu an einem einzigen Tag ab. Dennoch könnte die Diskussion an Fahrt aufnehmen, ob es bei einer extrem kritischen Corona-Lage moralisch verantwortbar ist, überhaupt Flaschensauerstoff für Bergsteiger bereitzustellen.
Göttlers nächster Versuch
Auf Flaschensauerstoff verzichten wollen in diesem Jahr nur wenige der knapp 400 Bergsteiger am Mount Everest. Darunter ist der deutsche Bergsteiger David Göttler, der nach seinem gescheiterten Versuch 2019 einen neuen Anlauf nehmen will. Vor zwei Jahren war der 42-Jährige wegen hohen Verkehrsaufkommens auf der Normalroute knapp 200 Meter unterhalb des Gipfel umgekehrt. „Für mich fühlt es sich unvollendet an“, schrieb David auf Facebook. „Ich würde gerne vollenden, was ich begonnen habe.
Der US-Amerikaner Colin O’Brady will ebenfalls ohne Atemmaske über die Normalroute zunächst den Everest besteigen und direkt anschließend vom Südsattel aus den Lhotse angehen. Der Spanier Kilian Jornet hat sich nach Medienberichten für Mai sogar die „echte“ Everest-Überschreitung ohne Flaschensauerstoff vorgenommen: über den Everest-Westgrat zum Gipfel, dann zum Südsattel und auf den Lhotse. Kilian selbst, der im Frühjahr 2017 den Mount Everest über die tibetische Nordseite zweimal innerhalb einer Woche im Eiltempo und ohne Atemmaske bestiegen hatte, äußerte sich noch nicht zu seinem angeblichen Projekt. Die Everest-Lhotse-Traverse über den Westgrat hatte 2017 auch Ueli Steck geplant. Der Schweizer war während der Akklimatisierungsphase am Nuptse aus einer Höhe von rund 7600 Metern in den Tod gestürzt.