Für den Gipfel über Leichen steigen?

K2
K2 (im Jahr 2004)

Die Bilder und Videos, die seit Tagen in den sozialen Medien über den Gipfeltag am K2 kursieren, verstören. Darin ist zu sehen, wie Bergsteigerinnen und Bergsteiger unterhalb des „Flaschenhalses“, der Schlüsselstelle auf rund 8000 Metern, über die Leiche des pakistanischen Bergsteigers Muhammad Hassan steigen.

Um seinen Tod ranken sich so viele Fragen, dass die Regionalregierung der pakistanischen Provinz Gilgit-Baltistan eine Untersuchungskommission eingesetzt hat. Sie soll innerhalb von zwei Wochen klären, was am 27. Juli in der Gipfelregion des zweithöchsten Bergs der Erde geschah. Was genau stieß Hassan zu? Wurde alles getan, um sein Leben zu retten? War er ausreichend ausgerüstet für seine Arbeit als High Altitude Porter, sprich Hochträger? Hätte er aufgrund seiner bergsteigerischen Fähigkeiten überhaupt dort oben sein dürfen?

Todesursache unklar

Angela Benavides von ExplorersWeb hat Stimmen vom Gipfeltag zusammengetragen, die ein teilweise widersprüchliches Bild zeichnen. Vor allem, was Hassan zustieß, ist unklar. Wurde er von einer Lawine getroffen, die sich in der Nacht von dem riesigen Eisblock oberhalb des Flaschenhalses gelöst hatte? Stürzte er in eine Spalte? Schlug er mit dem Kopf auf einen Stein auf und wurde dabei seine Atemmaske zerstört? Und wie lange lebte er noch? Auf einem Drohnen-Video des deutschen Kameramanns Philip Flämig, der im Auftrag des österreichischen Expeditionsveranstalters Furtenbach Adventures am K2 filmte, sieht man, wie sich ein Mann im Hellen, also nach Tagesanbruch, allein um Hassan kümmert. Es sieht aus, als würde er eine Herzmassage ausführen.

Muhammad Hassan arbeitete für die pakistanische Agentur Lela Peak Expedition und unterstützte das Team, das an jenem Tag die Fixseile legte. Das bestätigte der Chef der Agentur, Anwar Syed, mir gegenüber. Ein Verwandter Hassans sei bei Muhammad gewesen, als dieser beim Klettern am Flaschenhals abrutscht sei, so Syed: „Sein Verwandter und ein anderer zogen ihn hoch, und nach wenigen Augenblicken verstarb er. Es blieb also nicht genug Zeit, um ihn zu retten.“

Andere Aussagen widersprechen dieser Darstellung eines schnellen Tods. „Über die Erzählung von drei unterschiedlichen Augenzeugen kann ich berichten, dass dieser Mann noch gelebt hat, während etwa 50 Leute an ihm vorbeigestiegen sind. Das ist auch in den Drohnenaufnahmen sichtbar“, sagte Kameramann Flämig der österreichischen Zeitung „Der Standard“. „Zum Teil gehen die Aussagen so weit, dass die Leute, die vom Gipfel zurückkamen, immer noch eine lebende Person angetroffen haben.“

Menschliche Geste

Offenbar war Hassan erstmals so hoch am Berg unterwegs. Seine Witwe habe gegenüber Flämig und dem österreichischen Bergsteiger Willi Steindl bei deren Kondolenzbesuch berichtet, dass ihr Mann bislang nur Material zum K2-Basislager getragen habe, schreibt Benavides. Muhammad sei diesmal nur weiter aufgestiegen, weil er mehr Geld gebraucht habe, um seine kranke Mutter versorgen zu lassen.

Hassan hinterlässt seine Frau und drei kleine Kinder. Sie stehen nun ohne Ehemann da, ohne Vater – und ohne Versorger. In Pakistan sind High Altitude Porters in der Regel im Todesfall nur mit umgerechnet rund 1500 US-Dollar versichert. Flämig und Steindl sammelten Geld und überbrachten es Hassans Witwe, obwohl sie selbst den Unfall nicht aus nächster Nähe miterlebt hatten. Es war eine menschliche Geste von eigentlich Unbeteiligten. Nach einem Zwischenfall, bei dem offenbar viele näher Beteiligte ihren eigenen Erfolg höherstellten als Umsicht und Menschlichkeit.

Glück verhinderte größere Katastrophe

Blick von der K2-„Schulter“ auf den „Flaschenhals“

Am Tag, als Hassan starb, versuchten fast 200 Bergsteigerinnen und Bergsteiger, den Gipfel des K2 auf 8611 Metern zu erreichen, rund die Hälfte war oben – unter ihnen die Norwegerin Kristin Harila und ihr nepalesischer Bergführer Tenjen Sherpa, die damit ihr Projekt „So schnell wie möglich auf alle Achttausender“ innerhalb von drei Monaten und einem Tag abschlossen.

Die andere Hälfte der Gipfelaspiranten – unter ihnen das Furtenbach-Team – kehrte um, vor allem wegen zu hoher Lawinengefahr. Mehrere kleinere Lawinen gingen über dem Flaschenhals ab, wo sich über Stunden ein langer Stau gebildet hatte. Wäre es eine große Lawine gewesen, hätte nicht nur Hassan sein Leben verloren, sondern auch viele andere mehr.

Verantwortungsdiffusion

Butterlampen_Gebetsmuehlen
R.I.P.

Wer an diesem Tag den Gipfel erreichte, stieg mindestens einmal, die meisten sogar zweimal – beim Auf- und Abstieg – über den pakistanischen Bergsteiger hinweg. Selbst wenn es, was noch zu klären ist, wirklich nicht möglich war, Hassan zu retten – hätte der Respekt vor ihm nicht geboten, seinen Körper in einer Spalte beizusetzen oder ihn wenigstens ein Stück weit den Berg hinabzulassen? Neu ist diese Frage nicht. Am K2 wiederholt sich, was im Gipfelbereich des Mount Everest seit vielen Jahren immer wieder geschieht. Rettungsaktionen wie die des nepalesischen Bergführers Gelje Sherpa im vergangenen Frühjahr – er überzeugte seinen chinesischen Kunden, auf den Gipfel zu verzichten, um einen in Not geratenen malaysischen Bergsteiger zu retten – sind die Ausnahme. Die meisten steigen einfach vorbei.

Für Menschlichkeit scheint immer weniger Platz zu sein, je höher es geht und je mehr Leute unterwegs sind. In der Sozialpsychologie wird dieses Phänomen, das es übrigens nicht nur in den hohen Bergen gibt, Verantwortungsdiffusion genannt. Vereinfacht lässt es sich so beschreiben: Wenn zu viele Menschen da sind, um Verantwortung zu übernehmen, übernimmt sie am Ende oft niemand. Weil jeder erwartet, dass es der andere tut. Das ist traurig und kann jemanden, der in Not ist, das Leben kosten.

Update 10. August: Die Norwegerin Kristin Harila hat sich gegen den Vorwurf unterlassener Hilfeleistung für Hassan gewehrt. Sie sprach von einem „tragischen Unfall“: „Niemand hatte Schuld daran, man kann sich nicht dazu äußern, wenn man die Situation nicht versteht. (…) (Tenjen) Lama, ich und vor allem (ihr Kameramann) Gabriel (Tarso) haben damals alles für ihn getan, was wir konnten. Dies geschah an der gefährlichsten Stelle des tödlichsten Berges der Welt, und man sollte nicht vergessen, dass auf über 8000 Metern Höhe der Überlebensinstinkt die Entscheidungen beeinflusst, die man trifft.“

Lama, Gabriel und sie selbst hätten sofort versucht, Hassan zu bergen, der kopfüber im Seil gehangen habe. Schließlich sei es ihnen gelungen, den Pakistaner in die richtige Richtung zu drehen. Hassan habe weder einen Daunenanzug noch eine Atemmaske getragen. Tarso habe ihm von seiner Flasche Sauerstoff gegeben, insgesamt sei der Portugiese zweieinhalb Stunden bei Hassan geblieben. Sie selbst und Lama seien weitergestiegen, weil sie die Nachricht erhalten hätten, dass weiter vorn Mitglieder des Fixseil-Teams wegen eines Lawinenabgangs in Schwierigkeiten geraten seien, was sich nicht bestätigt habe. Sie seien dann weiter aufgestiegen. „In Anbetracht der vielen Menschen, die zurückgeblieben waren und umgedreht hatten, glaubte ich, dass Hassan jede erdenkliche Hilfe bekommen würde und dass er es schaffen würde, herunterzukommen“, schreibt Harila.

6 Antworten auf „Für den Gipfel über Leichen steigen?“

  1. einfach widerlich dieses heutige „“ Tun „“ – mit Himalaya # echt Bergsteigen # hat dies nichts und schon gar nichts mehr zu tun !!!!

  2. Naja, Menschlichkeit ist wichtig, aber an dieser Stelle UNMÖGLICH, das ist die schlimmste Stelle der ganzen Besteigung, wer hier fordert Hilfe zu leisten soll selbst dahin kommen!!
    Und ich weiss wovon ich spreche, war selbst dort.

    1. Versuchen zu helfen kann man immer! Bei der Masse der anwesenden „Bergsteiger“ ist dies sicher irgendwie möglich.
      Diese Kommerzialisierung der Bergsteigerei ist absolut verachtend! Über eine Leiche oder sogar über einen sterbenden Menschen zu steigen, nur um das Ziel zu erreichen, ist eine unmoralische Handlung. Wenn es dann noch um Rekorde geht, bleibt mir leider nur noch der Ruf nach einem Verbot solcher Unternehmen.

  3. Herzlichen Dank, lieber Stefan, wieder einmal für deine so treffende Perspektive und kritische Anfrage an diesen Stil des Höhenbergsteigens.
    Es ist unfassbar traurig und zynisch, welche Vergewaltigung von Berg und Mensch für eitle Rekorde, Selbstdarstellungen und durch die Hybris des Kaufbaren heute im Himalaya stattfindet!
    Auch ich habe beides in dieser Höhe – einfach weitersteigen oder helfen – erlebt.

    Churchy

  4. Eine krankhafte Entwicklung.
    Ein altes Sprichwort lautet:
    Erst der Höchste,
    dann der Nächste,
    dann die Arbeit,
    und dann ich.

    Ich werde den Eindruck nicht los, dass die Entwicklung mehr und mehr, nicht nur im Bergsport, in die entgegengesetzte Richtung geht…..

  5. Der Expeditionsleiter und die reichen Westler müssen hier viel mehr in die Verantwortung genommen werden.

    Diese Form des “Bergsteigens” ist eh nur noch Krank! Aber das muss jeder für sich entscheiden.

    Nature First.

Kommentare sind geschlossen.

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