„Warst du am Gipfel?“ Eigentlich sollte diese Frage einfach zu beantworten sein. Schließlich flüstert einem doch der gesunde Menschenverstand ein, dass der Gipfel dort ist, wo es nicht mehr höher geht. Aber die Natur hat eben ihre Launen. Nicht jeder Berg ist wie eine Pyramide geformt, mit einer eindeutigen Spitze. Ein Team um den deutschen Chronisten des Höhenbergsteigens, Eberhard Jurgalski, hat in sieben Jahre langer Recherchearbeit drei der 14 Achttausender untersucht, bei denen es aufgrund der topographischen Gegebenheiten immer wieder zu Fehleinschätzungen von Bergsteigern darüber gekommen ist: Annapurna, Dhaulagiri und Manaslu. „Nach all den Nachforschungen und Erkundigungen ist nun klar, dass viele Bergsteiger, unter ihnen einige sehr bekannte, definitiv die höchsten Punkte eines oder mehrerer dieser Berge verfehlt haben“, schreibt Eberhard auf Internetseite 8000ers.com.
Beispiel Annapurna: Aufgrund von hoch auflösenden Satellitenaufnahmen stellte das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) für Jurgalski und Co. ein Profil des über 300 Meter langen Annapurna-Gipfelgrats zur Verfügung, mit zentimetergenauen Angaben der Erhebungen. Von denen gibt es einige: neben dem „wirklichen“, 8091 Meter hohen Gipfel mehr als eine Handvoll Wechten, die für den Gipfel gehalten werden könnten und teilweise auch wurden. Einer dieser Punkte ist nur wenige Zentimeter niedriger als der Gipfel, ein anderer aber fast 27 Meter.
„Die meisten dachten wirklich, sie wären oben“
„Wir haben etwa die Hälfte der Bergsteiger abgearbeitet, die auf der Liste mit allen 14 Achttausendern stehen“, sagt mir Eberhard Jurgalski. „Ich gehe davon aus, dass weniger als eine Handvoll wirklich auf allen höchsten Punkten gestanden haben.“ Der 66-Jährige plädiert dafür, eine so genannte „Elite-Liste“ für diese Bergsteiger anzulegen. Außerdem schlagen Jurgalski und seine Kollegen vor, als Konsequenz ihrer Recherchen eine „Toleranzzone“ mit einigen Metern unter und neben dem höchsten Punkt zu definieren, innerhalb derer ein Achttausender als bestiegen gelten kann. „Es geht uns um Genauigkeit, nicht darum, irgendwen auf die Anklagebank zu setzen“, sagt Eberhard. „Die Leistungen werden dadurch ja nicht geschmälert. Die meisten dachten wirklich, sie wären oben. Das war keine Schummelei.“
Wächte irrtümlich für Manaslu-Gipfel gehalten
Ralf Dujmovits, der erste und bisher einzige Deutsche auf allen Achttausendern, hat – im Gegensatz zu anderen Top-Bergsteigern – von Beginn an mit Jurgalski zusammengearbeitet, den Kontakt zum DLR vermittelt und dem Chronisten seine Fotos aus der Gipfelregion der drei untersuchten Achttausender zur Verfügung gestellt. Das Ergebnis: Am Dhaulagiri erreichte er 1990 den Gipfel. 2004 an der Annapurna war er dem allerhöchsten Punkt sehr nahe – „innerhalb der Toleranzzone“, wie mir Ralf sagt. 2007 am Manaslu (ich begleitete die Expedition damals als Reporter im Basislager) stand er jedoch auf einer Wechte, die nach den aktuellen Erkenntnissen zwischen drei und sechs Meter niedriger als der Gipfel ist und auf dem Grat in Aufstiegsrichtung ein Stück weiter vorne liegt.
„Jetzt wissen wir, dass ich nicht auf dem höchsten Punkt stand. Ich kann das problemlos eingestehen“, sagt Ralf. „An jenem Tag wehte ein starker Wind. Ich habe nicht an der vermeintlichen Gipfelwechte vorbei nach hinten sehen können. Der Himmel war voll mit Spindrift. Ich war noch mal drei Meter weiter, habe aber keinen höheren Punkt gesehen.“ Er habe die Stelle wiedererkannt, an der 2002 Gerlinde Kaltenbrunner und Renzo Corona gestanden hätten, so Dujmovits: „Ich ging davon aus, dass es wirklich der höchste Punkt war. Vielleicht hätte ich mir im Vorfeld die Bilder der japanischen Erstbesteiger genauer ansehen müssen. Als ich oben war, dachte ich, dass die Felsen, die man auf diesen Bildern sieht, komplett eingeschneit seien.“
„Saugefährlicher Grat“
Am Dhaulagiri mit seiner ebenfalls unübersichtlichen Topographie seien die Umstände anders gewesen. „Damals war ich noch ein junger, sehr ehrgeiziger Bergsteiger. Ich bin auf der Route der Erstbesteiger einfach immer weiter gestiegen, alleine, unangeseilt“, erzählt Dujmovits. „Ich war dann wirklich am Gipfel, im Rückblick muss ich jedoch sagen: Das war meinem Ehrgeiz geschuldet. Aber es war auch eine Riesenportion Zufall mit im Spiel: dass gutes Wetter herrschte, dass es nicht neblig war, dass ich wirklich top gesehen habe und am Ende den allerhöchsten Punkt erreicht habe. Am Manaslu war es anders, da fehlte mir einfach dieses Glück.“
Aber wie sollen sich Bergsteiger verhalten, wenn sie sich etwa an der Annapurna nicht sicher sind, wo der höchste Punkt ist? Etwa den kompletten Grat überqueren, wie es in dem Report als sicherste, wenn auch eher unrealistische Methode bezeichnet wird, um einen Irrtum auszuschließen? „Das ist unsinnig, weil der Grat saugefährlich ist. Da kommt eine Wechte nach der anderen“, sagt Ralf. „Du kommst da oben ausgepumpt auf über 8000 Metern an. Dann stehst du irgendwann auf einer Wechte, guckst in alle Richtungen und denkst: Da hinten sind schon noch ein paar hohe Punkte, aber sind die wirklich höher? Und dann lässt du es sein, weil es Harakiri wäre. Das Risiko muss in einem vernünftigen Verhältnis zum Ergebnis stehen.“
Ab sofort strengere Kriterien
Dujmovits spricht sich für den Vorschlag von Jurgalski und Co. aus, an Manaslu, Dhaulagiri und Annapurna Toleranzzonen um die „wirklichen“ Gipfel herum zu definieren – allerdings nur, um frühere Besteigungen einzuordnen. Damals hätten eben viele der nun verfügbaren Informationen noch nicht vorgelegen, sagt Ralf: „Aber für die Zukunft müssen strengere Kriterien gelten, weil man jetzt genau weiß, wo die höchsten Punkte liegen. Jeder Bergsteiger kann sich nun, wenn er sich auf diese Achttausender vorbereitet, die PDFs herunterladen und sich schlau machen.“
Anders als Dujmovits zeigten sich einige Top-Bergsteiger bisher wenig bereit, die Chronisten bei ihren Recherchen zu unterstützen. „Ich deute das nicht unbedingt als Mauern, sondern einfach so, dass man sich mit dem Thema nicht mehr auseinandersetzen möchte“, sagt Dujmovits. „Die Autoren haben sehr genau recherchiert und endlich die Wahrheit ans Licht gebracht. Aber manche empfinden es vielleicht auch als eine ehrenrührige Geschichte.“ Er appelliert, mit Jurgalski und Co. zusammenzuarbeiten, „damit für die zukünftige Generation der Achttausender-Bergsteiger klarere Bilder vorhanden sind, die jeder anschauen kann“.
Keine Rückkehr zum Manaslu
Er selbst habe eine Weile mit sich gerungen, ob er als Konsequenz aus den neuen Erkenntnissen noch einmal zum Manaslu zurückkehren solle, habe sich am Ende aber dagegen entschieden, sagt der 57-Jährige. Da er auf Flaschensauerstoff verzichten würde, komme der Herbst nicht in Frage, weil dann Hunderte von Gipfelanwärtern an dem 8163 Meter hohen Berg unterwegs seien, so Ralf: „Und im Frühjahr? Dann kommst du da oben an, und die Wechten sind wie 2007 wieder so groß, dass du wirklich nicht herüber queren kannst. Das ist mir das Risiko, das ich auf mich nehmen müsste, nicht wert – wegen sechs Metern, die mir zum höchsten Punkt gefehlt haben.“
P.S.: Ich kenne keinen Bergsteiger oder auch große Medien, die im Zusammenhang mit dem Achttausender-Bergsteigen nicht auf Eberhard Jurgalskis Internetseite 8000ers.com zurückgreifen. Umso unverständlicher ist, dass der Chronist händeringend nach Sponsoren suchen muss. Wenn ihr Eberhards Arbeit unterstützen wollt, einfach rechts oben auf seiner Internetseite klicken.