Die (fast) vergessene Chamlang-Expedition

Die Routen von Halecek/Hak (rot) und Eberle/Köhler (grün) am Chamlang

Marek Holecek und Zdenek Hak sind ein bärenstarkes Kletterteam. Nachdem die beiden Tschechen bereits 2018 für ihre neue Route durch die Südwestwand des Achttausenders Gasherbrum I in Pakistan den Piolet d’Or erhalten hatten, werden sie am 19. September beim Bergfestival in Ladek-Zdroj in Polen erneut mit dem „Oscar der Bergsteiger“ ausgezeichnet: für ihre im Frühjahr 2019 im Alpinstil gekletterte neue Route durch die Nordwestwand des 7321 Meter hohen Chamlang in Nepal. Hinterher überschritten Marek und Zdenek noch den Gipfel und stiegen über die Route der japanischen Erstbesteiger ab. Eine Piolet-d’Or-würdige Leistung, ohne Frage.

Doch die Aussage Holeceks auf der Website seines Sponsors, es habe sich um „die erste Besteigung der 2000 Meter hohen mörderischen Nordwestwand, dazu noch im Alpinstil“ gehandelt, ist nur dann richtig, wenn man vor Besteigung noch das Wort „komplette“ einfügt. Denn bereits vor 30 Jahren kletterten zwei deutsche Bergsteiger durch die Nordwestwand – zumindest bis auf eine Höhe von 6600 Metern, um von dort aus über die Westwand zum Gipfel aufzusteigen. Auch sie waren im Alpinstil unterwegs.

Doug Scott gab den Tipp

Bernd Eberle (l.) und Stefan Köhler (r.) 1990 am Chamlang

Stefan Köhler und Bernd Eberle gelang am 21. Oktober 1990 die vierte Besteigung des Chamlang – über eine neue Route. Den Tipp, durch die Nordwestwand zu steigen, hatten sie von keinem Geringeren als Doug Scout erhalten. Der legendäre britische Bergsteiger hatte 1981 zusammen mit dem Südtiroler Reinhold Messner erstmals die Nordwand des Chamlang bis zum 7180 Meter hohen Mittelgipfel durchstiegen, 1984 war er zudem mit einem anderen Team mit seinem Versuch gescheitert, die drei Gipfel des Chamlang-Massivs zu überschreiten. Scott und seine damalige Frau Sharabati Prabhu waren es auch, die 1990 in Nepal für das deutsche Team um Köhler und Eberle die nötigen Strippen zogen. Das Team schrumpfte von ursprünglich sechs auf vier Mitglieder, weil zwei von ihnen höhenkrank wurden und deshalb vorzeitig das Basislager verlassen mussten.

So blieben nur Eberle und seine Ehefrau Kathrin sowie Köhler und seine damalige Freundin Dagmar Stein zurück. Wegen einer Schlechtwetterphase wurde schließlich die Zeit für einen Versuch in der Nordwestwand knapp. Die beiden Frauen begleiteten die Männer noch bis zum Wandfuß, dann stiegen Stefan Köhler und Bernd Eberle in die Wand ein. „Unsere Route führte damals ausschließlich durch Schnee und Eis“, erinnert sich Köhler, inzwischen 60 Jahre alt. „Der Klimawandel hat auch am Chamlang seine Spuren hinterlassen.“

Nächte im Sturm

Am Einstieg zur Nordwestwand

Stefan und Bernd stiegen auf der vom Wandfuß aus gesehen rechten Seite auf, über eine zwischen 40 bis 60 Grad steile Flanke. „Zwei bis drei Seillängen waren sogar rund 70 Grad steil“, sagt mir Köhler. „Meist sind wir jedoch seilfrei gestiegen.“

Auf einer kleinen Plattform auf 6200 Meter Höhe verbrachten die beiden deutschen Bergsteiger eine Nacht im Sturm. Das zweite Biwak am nächsten Tag war kaum erholsamer. Sie schlugen ihr kleines, nur einwandiges und darum leichtes Zelt in einer Gletscherspalte am Westgrat auf 6600 Metern auf. „Wir dachten, wir seien in der Spalte geschützt, doch sie wirkte wie ein Windkanal“, sagt Stefan.

In der Wand

Am dritten Tag stiegen sie über die Westwand die restlichen rund 700 Höhenmeter bis zum Gipfel auf. Um 10 Uhr Ortszeit standen sie oben. „Es war extrem kalt, minus 30 Grad Celsius, dazu der Sturm. Wir konnten kaum aufrecht stehen“, berichtet Köhler. Schnell machten sie sich wieder auf den Abstieg – in der Spur ihres Aufstiegs.

„Die Sicht war gut. Wäre Nebel hereingezogen oder hätte es zu schneien begonnen, hätten wir den Weg wohl nicht wiedergefunden.“ Nach einer weiteren Nacht auf 6200 Metern erreichten Stefan und Bernd wieder den Wandfuß, wo Dagmar und Kathrin sie erwarteten. „Ich war damals in der Form meines Lebens“ erinnert sich Stefan Köhler. „Im Rückblick würde ich unsere Tour als eine herausragende Leistung bezeichnen – für jene Zeit. Wir haben am Chamlang eine Spur gelegt.“

„Pech der Geschichte“

Direkt unterhalb der Gipfelwächte

Umso enttäuschender empfanden es die beiden deutschen Bergsteiger, dass ihre Erstbegehung an dem Siebentausender in Nepal in der Öffentlichkeit auf nur wenig Interesse stieß. „Damals steckte das Internet noch in den Kinderschuhen, es gab nur wenige Alpin-Zeitschriften. Und die stürzten sich auf die Solo-Durchsteigung der Lhotse-Südwand, die in jenem Jahr angeblich Tomo Cesen gelungen war“, sagt Köhler. „Vor diesem Hintergrund interessierte sich kaum jemand für unser erfolgreiches Projekt. Später entpuppte sich die Lhotse-Geschichte auch noch als Lüge.“ Cesens vermeintlicher Coup an der Südwand des Achttausender Lhotse ist bis heute äußerst umstritten, der Slowene konnte keine Belege für seine Besteigung vorlegen.

Zurück von der erfolgreichen Besteigung

Sie hätten damals das „Pech der Geschichte“ gehabt, sagt Köhler. Den Ersten Bürgermeister der Stadt Friedrichshafen am Bodensee zieht es immer noch in die hohen Berge. So bestieg er 2016 den 7077 Meter hohen Kun im indischen Himalaya und 2017 den 7546 Meter hohen Mustagh Ata im Westen Chinas. Sein Partner 1990 am Chamlang, Bernd Eberle, arbeitet nach wie vor als Bergführer in Mittenwald am Karwendel.

Dass jetzt eine Chamlang-Expedition mit dem Piolet d’Or ausgezeichnet wird, freut die beiden deutschen Bergsteiger einerseits. Andererseits reißt es alte Wunden auf. „Es geht mir nicht darum, den Tschechen die Freude zu vermiesen. Ich gönne ihnen die Auszeichnung wirklich“, sagt Stefan Köhler. „Aber wie schon damals redet auch jetzt wieder niemand über unsere Erstbegehung in der Wand vor 30 Jahren. Und das schmerzt.“                

2 Antworten auf „Die (fast) vergessene Chamlang-Expedition“

  1. Die Bergsteiger Eberle und Köhler hätten meines Erachtens den Preis mindestens auch verdient oder im Nachgang eine Würdigung erhalten sollen! Ohne die Leistung der jetzigen Preisträger in Frage zu stellen, vor 30 Jahren, ohne die heutige moderne Ausrüstung- da ziehe ich wirklich meinen Hut!! Wurden die Herren Eberle und Köhler eigentlich auch eingeladen zur Preisverleihung? Das wäre doch interessant zu wissen! Glückwunsch an die Preisträger!

Kommentare sind geschlossen.

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