Es ist angerichtet. Für dieses Wochenende werden die ersten Gipfelerfolge der Frühjahrssaison am Mount Everest und am Dhaulagiri im Westen Nepals erwartet. Das Wetter verspricht stabil zu werden, mit wenig Wind, die Chancen stehen also gut. Viele der kommerziellen Teams haben ihre Akklimatisierung abgeschlossen und scharren mit den Hufen. Alles ganz normal, oder?
Ich gebe zu, es fällt mir schwer, über die Expeditionen an den Achttausendern Nepals zu berichten und dabei die dramatische Corona-Lage in dem Himalayastaat völlig auszublenden – so als wären die Berge eine Riesenblase, abgeschottet von allem, was drumherum geschieht. Tag für Tag werden derzeit aus Nepal neue Höchststände an COVID-19-Infektionen gemeldet. Heute waren es 8970, die Hälfte davon im Kathmandu-Tal. Das Gesundheitssystem des Landes ist völlig überfordert. In vielen Krankenhäusern fehlt es an Betten und Sauerstoff. Patienten müssen abgewiesen werden.
„Übertrieben, irreführend“
Geht es nach der nepalesischen Regierung, müssen sich die Expeditionen dennoch keine Corona-Sorgen machen. Das zuständige Tourismusministerium wittert in den Medienberichten über Corona-Fälle in den Basislagern gar eine Verschwörung – mit dem Ziel, das gerade erst wieder zart erblühte Pflänzlein Bergtourismus niederzutrampeln. „Einige Leute oder eine Gruppe mit Eigeninteressen übertreiben oder liefern irreführende Informationen aus den Bergen, um die Expeditionssaison zu verderben“, sagte Rudra Singh Tamang, Generaldirektor des Ministeriums, der Zeitung „Himalayan Times“.
Das passt zur Mauertaktik des Ministeriums in den vergangenen Wochen: Was nicht sein darf, wird geleugnet. Corona-Fälle im Everest-Basislager? Nein, woher denn? Bestätigt fühlt sich das Ministerium durch die Erklärungen einiger Expeditionsveranstalter, dass es in ihren Teams bisher keine Infektionen gegeben habe. Und auch der nepalesische Bergsteigerverband NMA weist die Medienberichte zurück. „Dass es einen Covid-19-Ausbruch am Everest gibt, ist nur ein Gerücht“, sagte NMA-Präsident Santa Bir Lama der Zeitung „Kathmandu Post“: „Einige Fälle von Covid-19 wurden unter den Bergsteigern gemeldet, die vor drei Wochen aus dem Basislager evakuiert wurden. Aber jetzt ist alles in Ordnung. Es gibt nichts, worüber man sich Sorgen machen müsste.“
Khumbu-Husten oder COVID-19?
„Everest ER“, die Krankenstation im Everest-Basislager, gab gestern auf Facebook bekannt, dass die Ärzte dort bisher 227 Patienten versorgt hätten: Husten sei die „immerwährende Nummer 1 von Saison zu Saison, aber dieses Jahr ist es angesichts der Covid-Pandemie eine besondere Herausforderung. Wir haben im Moment nicht die Kapazität für Schnelltests am Behandlungsort.“ Mit anderen Worten: Es erweist sich erst in einem Krankenhaus in Kathmandu, ob es sich um eine Infektion mit dem Coronavirus handelt. 35 Bergsteiger hätten aus dem Basislager ausgeflogen werden müssen, so „Everest ER“. In der vergangenen Woche hatte der polnische Bergsteiger Pawel Michalski aus dem Everest-Basislager berichtet, rund 30 Menschen seien mit Verdacht auf Lungenentzündung nach Kathmandu geflogen und dort positiv auf COVID-19 getestet worden.
Corona am Dhaulagiri
Vom Dhaulagiri wurden inzwischen rund 20 Corona-Infektionen gemeldet. „Die Hubschrauber konnten heute Morgen nicht fliegen“, schrieb die mexikanische Bergsteigerin Viridiana Alvarez heute auf Instagram. „Die Leute mit COVID warten noch auf Rettung.“ Stefi Troguet aus Andorra beschrieb gestern die Lage auf Facebook so: „Die letzten Tage im Dhaulagiri-Basislager waren verrückt und ungewiss. Viele COVID-Fälle, Leute wurden evakuiert, andere warten auf gutes Wetter, um sich herausfliegen zu lassen.“ So ganz normal klingt das alles nicht.