Wenn ich die Augen schließe und an die Nordwand des Mount Everest vor 20 Jahren zurückdenke, sehe ich das sogenannte Supercouloir vor mir. Wie ein gerader Strich ziehen sich das Japaner-Couloir im unteren Bereich und das Hornbein-Couloir weiter oben durch die Wand. Eine ästhetische Linie, eine selbst für Amateure wie mich fast logisch anmutende Route. Und doch so steil, anspruchsvoll und gefährlich.
Ich war 2005 als Reporter mit Gerlinde Kaltenbrunner, Ralf Dujmovits und Hirotaka Takeuchi unterwegs und bewunderte das Supercouloir wochenlang vom vorgeschobenen Basislager auf dem Zentralen Rongbuk-Gletscher aus. Der Versuch des Trios, über diese Route aufzusteigen, scheiterte damals schon im unteren Wandbereich an den Verhältnissen.
Geschick und Glück
Dass der Skibergsteiger Jim Morrison diese Kombination der beiden Rinnen gestern mit Skiern abgefahren ist und unbeschadet überlebt hat, grenzt für mich fast schon an ein kleines Wunder.
„Als ich endlich den Bergschrund [Spalte zwischen Wandfuß und Gletscher] überquert hatte, weinte ich“, sagte Morrison einem Reporter seines Sponsors National Geographic. „Ich hatte so viel riskiert, aber ich war am Leben.“ Dem 50-Jährigen dürfte klar sein, dass er bei allem skifahrerischen Geschick auch Glück brauchte – und hatte.
Snowboarder Siffredi blieb nach 2002 verschollen
Auf dieser Route, in dieser Wand war dies alles andere als selbstverständlich, wie das tragische Ende Marco Siffredis zeigt. Nachdem der französische Snowboarder 2001 über das Norton-Couloir in der Everest-Nordwand und den Nordsattel ins vorgeschobene Basislager am Östlichen Rongbuk-Gletscher gefahren war, versuchte er sich ein Jahr später am Hornbein-Couloir.
Das Foto am Gipfel, auf dem Snowboard, unmittelbar vor dem Start, war das letzte, das Siffredi lebend zeigte. Seine Leiche wurde bis heute nicht gefunden. Aufgestiegen war der 23-Jährige, mit Flaschensauerstoff, auf der tibetischen Normalroute über den Nordostgrat.
Elf Begleiter
Jim Morrison stieg mit elf weiteren Bergsteigern – mutmaßlich mit Flaschensauerstoff, andernfalls wäre es wohl vermeldet worden – durch das Supercouloir bis zum Gipfel. Bei seinen Begleitern handelte es sich um Bergführer des kommerziellen US-Expeditionsveranstalters Alpenglow Expeditions, erfahrene Sherpas aus Nepal, die die Aufstiegsroute mit Seilen sicherten, und ein Kamerateam um den Oscar-gekrönten Dokumentarfilmer und Bergsteiger Jimmy Chin.

Mehr als 30 Jahre lang war die Supercouloir-Route – trotz einiger Versuche – nicht mehr gemeistert worden. Eröffnet hatten sie 1980 (mit Atemmaske) die Japaner Takashi Osaki und Tsuneo Shigehiro.
Legendär war der „Blitzaufstieg“ der beiden Schweizer Erhard Loretan und Jean Troillet, die ohne Flaschensauerstoff in 41 Stunden durch die Rinnen zum Gipfel hinauf und wieder hinunter kletterten – mit einer kleiner Variante im unteren Bereich der Wand. 1991 verbuchte eine schwedische Expedition drei Gipfelerfolge von Teammitgliedern (mit Atemmaske) auf der Japaner-Route. Das war’s – bis gestern.
Gedanken bei der tödlich verunglückten Partnerin
Am Gipfel auf 8849 Metern angekommen, verstreute Morrison die Asche seiner vor drei Jahren tödlich verunglückten Lebensgefährtin Hilaree Nelson. „Ich habe mich kurz mit ihr unterhalten und hatte das Gefühl, ich könnte ihr den ganzen Tag widmen“, sagte Jim der National Geographic. Hilaree war im Herbst 2022 beim gemeinsamen Versuch einer Skiabfahrt vom Achttausender Manaslu in Nepal im Gipfelbereich von einer kleiner Lawine erfasst worden und in den Tod gestürzt.
2018 hatten Nelson und Morrison für Schlagzeilen am Lhotse gesorgt, als sie als Erste mit Skiern die sogenannte „Dream Line“ bewältigt hatten: vom Gipfel durch das schmale, rund 45 bis 50 Grad steile Lhotse-Couloir bis hinunter nach Lager 2 im Western Qwm auf 6400 Metern.
„Überlebensskifahren“
Nach dem emotionalen Moment am Gipfel des Everest schnallte Morrison die Ski an und startete in die Nordwand. Die Bedingungen seien nach dem starken Wind der vorhergehenden Woche „abscheulich“ gewesen“, sagte Morrison nach seiner geglückten Abfahrt. „Es war eine Mischung aus Überlebensskifahren und echtem Schreddern.“
Im Hornbein-Couloir – benannt nach dem Erstbegeher Tom Hornbein – musste der 50-Jährige einmal die Skier abschnallen und sich 200 Meter weit über blanken Fels abseilen. Danach konnte er wieder fahren, beziehungsweise springend die Richtung ändern (Hop-Turns).

„Einige Abschnitte waren glatt genug für echte Schwünge“, so Morrison. „Andere waren zerfurcht und wiesen Höhenunterschiede von bis zu einem Meter auf, wie gefrorene Wellen.“ Vier Stunden und fünf Minuten nach seiner Abfahrt vom Gipfel erreichte Morrison das Lager auf dem Zentralen Rongbuk-Gletscher auf rund 6000 Metern.
Die Abfahrt war geglückt – drei Wochen, nachdem der Pole Andrzej Bargiel mit seiner Skiabfahrt auf der nepalesischen Südseite des Everest, ohne Flaschensauerstoff bei Aufstieg und Abfahrt, das erste skifahrerische Glanzlicht der Herbstsaison an den Achttausendern gesetzt hatte. Auch Bargiel war beim Anstieg von einem großen Team unterstützt worden.
Erfolg im dritten Anlauf
Es war Morrisons dritter Versuch einer Skiabfahrt durch die fast 3000 Meter hohe Nordwand des Everest. 2023 hatten die chinesisch-tibetischen Behörden erst so spät im Herbst die Permits erteilt, dass dem Team die Zeit davongelaufen war.
2024 endete die Expedition vorzeitig, nachdem der nepalesischer Bergsteiger Yukta Gurung auf knapp 8000 Metern von einer kleinen Lawine getroffen worden war und sich bei dem Sturz ins Seil den Oberschenkel gebrochen hatte. Yukta hatte gerettet werden können – und gehörte jetzt zu den Bergsteigern, die mit Morrison den Gipfel erreichten.
Pionier Hans Kammerlander
Die erste Skiabfahrt auf der tibetischen Nordseite des Bergs gelang 1996 dem Südtiroler Hans Kammerlander. Er war – ohne Sherpa-Unterstützung und ohne Flaschensauerstoff – über die Normalroute über den Nordostgrat aufgestiegen und auf selbem Wege mit Skiern abgefahren. Wegen Schneemangels hatte Hans jedoch in mehreren Passagen die Ski abschnallen müssen.
Update 28. Oktober: Hier klicken, dann könnt ihr im Video von National Geographic einen ersten Eindruck von Jims Morrisons Ski-Abfahrt durch das Hornbein-Couloir erhalten.




Zu was Menschen fähig sind, aber auch das Schicksal herausfordern. Ich verneige mich vor diesen Menschen.🫶🧗🧗♀️